Collected Essays on Cultural and Contemporary History 1887–1901
GA 31
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88. Two Different Measures
The book "Heine, Dostojewskij und Gorkij" by Dr. J. E. Poritzky (published by Richard Wöpke in Leipzig), which has just appeared, offers, among many other noteworthy remarks, an examination of Heine literature at the end of the nineteenth century. One is reminded of the fundamental evils of our literary present when reading Poritzky's thoughts. In particular, the independence of judgment of many literary figures of our time becomes questionable when one follows Heine's reflections. For what Poritzky points out is undoubtedly correct (p. 6): "The Germanic judgments of Julian Schmidt and Heintich v. Treitschke have still not been overcome; on the contrary, they continue their effect in silence." Unfortunately, there are many "writers" today who have neither the ability nor the will to examine such judgments impartially for their value. These "writers", who can sometimes occupy quite prestigious positions, certainly need to make a judgment; they are more likely to do without one. Heine's literature is a good basis for making observations in these directions.
You only need to follow things carefully and you will find that the phrases used by Heine's opponents are always the same. Now there is something quite special about Heine. There may be people who are otherwise not insignificant and who are denied an unbiased judgment of Heine. Poritzky aptly points out one such example (p. 6 fl.): "The otherwise witty Hehn calls Heine a Jewish slacker."
Victor Hehn wrote a book about Goethe that is highly regarded. The following sentences can be found in this book: "Heine has no mind, only a great talent for imitation. Just as some of his fellow tribesmen can click their tongues so artfully that one really believes one can hear a nightingale, just as another can accurately reproduce the manner and style of "famous patterns", just as in the long years of Kladderadatsch he indulged in all the Iyrian forms of all poets and schools of poetry, so Heine also knew the simple-minded fidelity of the folk song, the fantasies of E. Th. A. Hoffmann and E. Th. A. Hoffmann. Th. A. Hoffmann's and Romanticism's fantasies, Goethe's heartfelt lute and melodious song with such virtuoso art that one was deceived and thought the similes were genuine." Poritzky shows that such an accusation can, if one wishes, be leveled at any creative spirit; but that, on the other hand, nothing is said at all if one proves a model for this or that intellectual product.
But one wonders: how do such absurdities come among the many healthy, witty remarks that Hehn makes in his "Thoughts on Goethe"? One can find no other reason for this than that Hehn immediately lost his sound judgment when he came across the "Jew" Heine. He had a general judgment, which of course should better be called prejudice, about the "Jew", and that made it impossible for him to make a special examination of the individual personality of Heine. Now there is something in Victor Hehn that Poritzky could not emphasize according to the task he set himself, but which I would like to add here.
Goethe once speaks of the spirits who have exerted the greatest influence on his development and names them as such: Shakespeare, Spinoza and Linn. That Spinoza's Judaism is not only not indifferent to the whole structure of his world view, but has exerted a profound influence on it, has been proved by Lazarus in his excellent book on the "Ethics of Judaism". It is now beyond doubt that Spinoza's effect on Goethe was quite extraordinary. We can only understand some of Goethe's feelings and ideas if we realize that he immersed himself again and again in Spinoza's world of ideas, indeed that Goethe's stormy passions often found their inner balance by immersing himself in the philosophical calm of the Amsterdam sage. Goethe, and we with him, owe much of what Hehn admires in Goethe to Spinoza. And after passing through Goethe's mind, Victor Hehn also accepts the "Jewish" philosophy of Spinoza as something great. - But if he believes he can prove a very similar relationship to Goethe in Heine, then - Heine croaks like a nightingale.
In the face of such phenomena, isn't it glaringly obvious how non-judgmental even important personalities can become if they are more or less openly anti-Semitic? Incidentally, on page 7 of his pamphlet, Poritzky has provided a compilation of recent assessments of Heine, which shows in a truly delightful way how all sound judgment can cease in literature when the temptation arises to no longer apply the same yardstick.
88. Zweierlei Mass
Die Schrift «Heine, Dostojewskij und Gorkij» von Dr. J. E. Poritzky (verlegt bei Richard Wöpke in Leipzig), die soeben erschienen ist, bietet, neben manchen anderen beachtenswerten Ausführungen, auch eine Betrachtung über die HeineLiteratur am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts. Man wird an Grundübel unserer literarischen Gegenwart erinnert, wenn man die Gedanken Poritzkys liest. Namentlich die Selbständigkeit des Urteilens bei vielen Literaten unserer Zeit wird fraglich, wenn man die Beleuchtungen Heines verfolgt. Denn es ist ohne Zweifel richtig, worauf Poritzky hinweist (S. 6): «Die germanischen Urteile Julian Schmidts und Heintich v. Treitschkes sind noch immer nicht überwunden; sie setzen vielmehr ihre Wirkung im stillen weiter fort.» Es gibt eben leider heute viele «Schriftsteller», in denen weder die Fähigkeit noch auch der Wille vorhanden ist, solche Urteile unbefangen auf ihren Wert zu prüfen. Ein Urteil von sich zu geben, haben diese «Schriftsteller», die zuweilen ganz angesehene Stellungen einnehmen können, durchaus nötig; eines zu haben, darauf verzichten sie schon eher. Die HeineLiteratur ist ein guter Boden, um Beobachtungen nach diesen Richtungen hin machen zu können.
Man braucht nur etwas aufmerksam die Dinge zu verfolgen, und da wird man finden, daß die Phrasen, mit denen sich die Gegner Heines breitmachen, immer wieder dieselben sind. Nun kommt bei Heine noch etwas ganz Besonderes hinzu. Es kann Leute geben, die sonst nicht unbedeutend sind und denen Heine gegenüber ein unbefangenes Urteil versagt ist. Auf ein solches Beispiel weist Poritzky treffend hin (S. 6 fl.): «Der sonst geistreiche Hehn nennt Heine einen jüdischen Nachäffer.»
Victor Hehn hat ein Buch über Goethe geschrieben, das großes Ansehen genießt. In diesem Buche finden sich die folgenden Sätze: «Heine hat kein Gemüt, sondern nur ein großes Talent der Nachahmung. Wie mancher seiner Stammesbrüder mit der Zunge so kunstreich schnalzen kann, daß man wirklich eine Nachtigall zu vernehmen glaubt, wie ein anderer Art und Stil «berühmter Muster> genau treffend wiedergibt, wie in den langen Jahren der Kladderadatsch in allen Iyrischen Formen aller Dichter und Dichterschulen sich erging, so wußte auch Heine die einfältige Treue des Volksliedes, die Phantasien E. Th. A. Hoffmanns und der Romantik, Goethes Herzenslaute und melodiösen Gesang mit so virtuoser Kunst nachzupfeifen, daß man sich täuschen ließ und die Similisteine für echt hielt.» Poritzky zeigt, daß man mit einem solchen Vorwurf, wenn man will, jeden schaffenden Geist treffen kann; daß aber andererseits gar nichts damit gesagt ist, wenn man für dieses oder jenes Geistesprodukt ein Vorbild nachweist.
Man fragt sich aber doch: wie kommen unter die mancherlei gesunden, geistvollen Ausführungen, die Hehn in seinen «Gedanken über Goethe» vorbringt, solche Absurditäten? Man kann dafür keinen anderen Grund finden als den, daß Hehn seine gesunde Urteilsfähigkeit sofort verlor, wenn er auf den «Juden» Heine stieß. Er hatte ein allgemeines Urteil, das natürlich besser Vorurteil heißen muß, über den «Juden», und das machte es ihm unmöglich, der Einzelpersönlichkeit Heine gegenüber noch besonders eine Prüfung anzustellen. Nun ist gerade bei Victor Hehn etwas nachzuweisen, was Poritzky nach der Aufgabe, die er sich gestellt hat, nicht hervorheben konnte, was ich aber doch hier anfügen möchte.
Goethe spricht einmal von den Geistern, die auf seine Entwicklung den allergrößten Einfluß ausgeübt haben, und nennt als solche: Shakespeare, Spinoza und Linn. Daß Spinozas Judentum für das ganze Gefüge seiner Weltanschauung nicht nur nicht gleichgültig ist, sondern einen tiefgehenden Einfluß auf sie geübt hat, dafür hat Lazarus in seinem ausgezeichneten Buche über die «Ethik des Judentums» den Beweis erbracht. Es ist nun zweifellos, daß Spinozas Wirkung auf Goethe eine ganz außerordentliche ist. Wir begreifen manche Empfindung, manche Vorstellung bei Goethe nur, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er sich immer wieder und wieder in die Ideenwelt des Spinoza vertieft hat, ja daß Goethes stürmische Leidenschaften ihren inneren Ausgleich oftmals durch Versenkung in die philosophische Ruhe des Amsterdamer Weltweisen gefunden haben. Vieles von dem, was Hehn bei Goethe bewundert, verdankt Goethe, und wir mit ihm, dem Spinoza. Und nach dem Durchgang durch Goethes Geist nimmt auch Victor Hehn die «jüdische» Philosophie des Spinoza als etwas Großes hin. - Wenn er aber bei Heine ein ganz ähnliches Verhältnis zu Goethe nachweisen zu können glaubt, dann — schnalzt Heine wie eine Nachtigall.
Ist es solchen Erscheinungen gegenüber nicht grell in die Augen springend, wie urteilslos selbst bedeutende Persönlichkeiten werden können, wenn ein mehr oder weniger offener Antisemitismus bei ihnen vorhanden ist. Übrigens hat Poritzky auf Seite 7 seines Schriftchens eine Zusammenstellung neuerer Heine-Beurteilungen gegeben, die in wahrhaft ergötz-. licher Weise zeigt, wie in der Literatur alles gesunde Urteil aufhören kann, wenn die Verlockung eintritt, nicht mehr mit einerlei Maß zu messen.