Collected Essays on Cultural and Contemporary History 1887–1901
GA 31
Translated by Steiner Online Library
99. Friedrich Nietzsche and the “Berliner Tageblatt”
Friedrich Nietzsche is currently staying in Weimar. No wonder that in this "educated" city a brave citizen feels the need to immerse himself in the philosopher's teachings. He wants to know in which order he should read his writings. What does he do? He turns to the "Berliner Tageblatt". The paper gave him the following information in its January 28, 1900 issue: "You ask in which order you should read the philosophical writings of Friedrich Nietzsche in order to gain a deeper understanding of this not exactly easy-to-understand leading mind. We advise you to start with the biography of Nietzsche by Mrs. Elisabeth Förster-Nietzsche, as his tragic life is the best key to his world of thought. Then read some of the "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (on Schopenhauer, on the benefits and disadvantages of history, on the origin of tragedy, on Richard Wagner); and then the two complementary major studies: Genealogy of Morals and Beyond Good and Evil. After these systematic works by the healthy Friedrich Nietzsche, you may turn to the volumes of aphorisms by the ailing and sick philosopher, roughly in the following order: Dawn, The Human-All Too Human, Joyful Science, Antichrist and last but not least his greatest creation, Thus Spoke Zarathustra, the understanding of which presupposes an exact familiarity with the intellectual structure of the man. Once you have traveled this arduous but certainly rewarding path, let all the impressions you have received come to an end by reading his "Collected Poems."
These lines are symptomatic of the bottomless illiteracy and ignorance with which the makers of our newspapers are endowed, and at the same time of the boundless carelessness with which they view their profession. For anyone with their eyes open, this is of course a fact as well known as the fact that the sun rises every morning. It seems, however, that there are still many naive people who think it possible to appeal to the superficiality of newspapermen on such an important question as the above. The gentleman who wrote the above note talks like someone who knows something about Nietzsche. He does not know the slightest thing about him. For he does not even know in what order Nietzsche wrote his books. The person in Weimar in need of knowledge should first read: some untimely reflections and then the great studies: Genealogy of Morals and Beyond Good and Evil, because in these systematic writings the healthy Nietzsche still speaks; then the volumes of aphorisms of the sick Nietzsche should follow: Dawn, Human-All Too Human, etc. Now "Menschliches-Allzumenschliches" was published in 1878, "Morgenröte" in 1881, "Genealogie der Moral" in 1887 and "Jenseits von Gut und Böse" in 1888. The scholar of the "Berliner Tageblatt" considers the works published in the last year before his illness to be the earlier ones; he considers the collection of aphorisms "Menschliches-Allzumenschliches", published in 1878, i.e. 6 years after the beginning of Nietzsche's writing career, to be a work by Nietzsche who was already ill. Poor questioner in Weimar! In the end, you are naïve enough to stick with your newspaper editor. Why don't you ask him how you should study mathematics? He will answer: First you have to learn integral calculus, then differential calculus, then trigonometry, then you will be sufficiently prepared to learn the multiplication tables. That's what it looks like in the minds of newspaper publishers!!!
99. Friedrich Nietzsche Und Das «Berliner Tageblatt»
In Weimar ist gegenwärtig Friedrich Nietzsche untergebracht. Kein Wunder, daß in dieser «gebildeten» Stadt ein wackerer Bürger das Bedürfnis fühlt, sich in die Lehre des Philosophen zu vertiefen. Er möchte wissen, in welcher Reihenfolge er dessen Schriften lesen solle. Was tut er? Er wendet sich an das «Berliner Tageblatt». Dieses gibt ihm in der Nr. vom 28. Januar 1900 folgende Auskunft: «Sie fragen, in welcher Reihenfolge Sie die philosophischen Schriften Friedrich Nietzsches lesen sollen, um in das Verständnis dieses nicht eben leicht verständlichen führenden Geistes einzudringen. Wir raten, mit der Biographie Nietzsches von Frau Elisabeth Förster-Nietzsche zu beginnen, da sein tragischer Lebensgang der beste Schlüssel für seine Gedankenwelt ist. Sodann lesen Sie einige der «Unzeitgemäßen Betrachtungen» (über Schopenhauer, vom Nutzen und Nachteil der Historie, von der Entstehung der Tragödie, über Richard Wagner); und im Anschluß daran die beiden sich ergänzenden großen Studien: Genealogie der Moral und Jenseits von Gut und Böse. Nach diesen systematischen Arbeiten des gesunden Friedrich Nietzsche mögen Sie sich den Aphorismenbänden des erkrankenden und kranken Philosophen zuwenden, etwa in der Reihenfolge: Morgenröte, Menschliches-Allzumenschliches, Fröhliche Wissenschaft, Antichrist und erst zuletzt seine großartigste Schöpfung «Also sprach Zarathustra, deren Verständnis die genaue Vertrautheit mit der geistigen Struktur des Mannes voraussetzt. Haben Sie diesen mühevollen, aber gewiß mit reichem geistigen Gewinn lohnenden Weg zurückgelegt, so lassen Sie alle empfangenen Eindrücke ausklingen in der Lektüre seiner «Gesammelten Gedichte.»
iese Zeilen sind symptomatisch für die bodenlose Unwissenheit und Unbildung, mit der die Macher unserer Zeitungen ausgestattet sind, und zugleich für den grenzenlosen Leichtsinn, der ihnen in der Auffassung ihres Berufes zukommt. Für jeden, der die Augen offen hat, ist das natürlich eine so bekannte Tatsache, wie die, daß jeden Morgen die Sonne aufgeht. Es scheint aber doch, daß es noch zahlreiche naive Menschen gibt, die es für möglich halten, sich in einer solch wichtigen Frage, wie die obige ist, an die Oberflächlichkeit der Zeitungsmacher zu wenden. Der Herr, der obige Notiz verfaßt hat, redet wie jemand, der etwas von Nietzsche versteht. Er weiß nicht das geringste von ihm. Denn er weiß gar nicht einmal, in welcher Reihenfolge Nietzsche seine Bücher geschrieben hat. Der Wissenbedürftige in Weimar soll erst: einige unzeitgemäße Betrachtungen lesen und dann die großen Studien: Genealogie der Moral und Jenseits von Gut und Böse, weil in diesen systematischen Schriften noch der gesunde Nietzsche spricht; dann sollen daran kommen die Aphorismenbände des kranken Nietzsche: Morgenröte, Menschliches-Allzumenschliches usw. Nun ist «Menschliches-Allzumenschliches» im Jahre 1878, Morgenröte 1881, «Genealogie der Moral» aber 1887 und «Jenseits von Gut und Böse» 1888 erschienen. Die im letzten Jahr vor der Erkrankung erschienenen Werke hält der Gelehrte des «Berliner Tageblatts» für die früheren; die 1878, also 6 Jahre nach dem Beginne von Nietzsches Schriftstellerlaufbahn, erschienene Aphorismensammlung «Menschliches-Allzumenschliches» hält er für ein Werk des schon kranken Nietzsche. Armer Fragesteller in Weimar! Du bist am Ende naiv genug, dich an deinen antwortenden Zeitungsmacher zu halten. Frage ihn doch einmal, wie du Mathematik studieren sollst? Er wird dir antworten: Erst mußt du Integralrechnung, dann Differentialrechnung lernen, dann dich an die Trigonometrie machen, dann wirst du genügend vorbereitet sein, das Einmaleins zu lernen. So sieht es in den Köpfen der Zeitungsmacher aus!!