Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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9. Balzac
On the centenary of his birth
In Honore de Balzac, a man was born in France on May 20, 1799 who, as an artist, expressed the world view of our century with all the one-sidedness that it initially needed in order to effectively assert itself against the school of thought that centuries of Christology had inculcated in people. If this modern world view is to be characterized in one word, it must be said that it sought to understand man on the basis of scientific knowledge. Just as we seek to understand the composition and movements of the universe purely in terms of natural law, today we also seek to explain the actions of human beings. We no longer think about why God allows evil in the world, but we seek to understand the human organization in order to be able to say how it comes to such expressions that are regarded as evil. Balzac exaggerated this current of thought. He wanted to be the naturalist of human society. Just as Dante wrote a "divine" comedy, he wanted to write a "human" one, because he thought: "There are social species, just as there are zoological species. Just as in the animal world the difference between [lion] and dog, between mammal and bird must be understood, so in human society the difference between civil servant and merchant, between financier and aristocrat by birth. One thing is overlooked. The animal species lion is so exhausted by the single individual that nothing else about it can interest us essentially once we have grasped the peculiarity of its species. The old maid may still have a special interest in the individual peculiarities of her lapdog. Such peculiarities cannot attract general attention. The situation is quite different with humans. Every individual becomes a problem for us here. The species is not limited to the individual. Each person presents us with a riddle. A psychological riddle for the explainer; an artistic task for the performer. Balzac did not understand this. That is why he did not portray individuals. All his characters lack the latter. We see in them representatives of their social types. The interests, goals and lifestyles of their class dominate them and hover over their heads like fixed ideas. The social costume, the milieu alone is drawn. Man is only a specimen. The truth of Balzac's view of the world will only be revealed when the individual, which he ignores, is clearly presented to us in a scientific way. This is how we must understand Balzac today. Then we will see in him the ancestor of many a contemporary representative of the new world view, who basically did not penetrate to the point where the individual begins. To name one of the greatest, it is Nietzsche's intellectual tragedy that he never pursued man into the secrets of individuality. For Nietzsche, so often characterized as an individualist, almost only generic ideas exist in broad areas. Nietzsche saw the proletarian, the Christian, the woman, the scholar and many others only as genera. And this circumstance explains many of Nietzsche's contradictions. Basically, all of Nietzsche's assertions, which he makes as an observer, as a philosopher, contradict the conclusions and judgments he forms. What he should have said of the individual, he asserts as generally characteristic truths. He suffers from the same prejudice under which Balzac wrote novels. Both lack the ability to draw the final conclusions, the truly unbiased view of reality. They cannot apply the truths gained from natural science to human society. They simply transfer what is valid there to here. But this literal transfer is wrong. When we today wind our way through the long series of Balzac's novels, we stand there, like Hölderlin before the people of his time: we see masters and servants, aristocrats and people, peasants and burghers; but we do not see people. Finally, we must realize that we can only understand the great prophets of the modern worldview if we understand how to go beyond them at the right moment. We do not understand Goethe today by organizing celebrations in his honour, by repeating and commenting on his words, but by drawing conclusions from his views that he was not yet able to draw. History only concerns us to the extent that it promotes our own activities.
9. Balzac
Zu dessen hundertstem Geburtstag
In Honore de Balzac wurde am 20. Mai 1799 Frankreich ein Mann geboren, der als Künstler die Weltanschauung unseres Jahrhunderts mit all den Einseitigkeiten zum Ausdrucke brachte, die sie zunächst nötig hatte, um sich wirksam durchzusetzen gegen die Geistesrichtung, die die jahrhundertalte Christologie den Menschen eingeimpft hat. Soll mit einem Worte diese moderne Weltanschauung charakterisiert werden, so muss man sagen: Sie suchte das Verständnis des Menschen auf dem Grunde naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Wie wir die Zusammensetzung und die Bewegungen des Weltalls rein naturgesetzlich zu begreifen suchen, so schwebt uns heute vor, auch des Menschen Tun und Lassen zu erklären. Wir denken nicht mehr darüber nach, warum Gott das Böse in der Welt zulässt, sondern wir suchen die menschliche Organisation zu verstehen, um sagen zu können, wie sie zu solchen Äußerungen kommt, die als böse angesehen werden. Diese Geistesströmung hat Balzac übertrieben. Er wollte der Naturforscher der menschlichen Gesellschaft sein. Wie Dante eine «göttliche» Komödie geschrieben hat, so wollte er eine «menschliche» schreiben, denn er dachte: Es gibt soziale Arten, wie es zoologische Arten gibt. Wie in der Tierwelt der Unterschied von [Löwe] und Hund, von Säugetier und Vogel begriffen werden muss, so in der menschlichen Gesellschaft der von Beamten und Kaufmann, von Finanzmann und Geburtsaristokrat. Eines ist dabei übersehen. Die tierische Art Löwe wird durch das einzelne Individuum so erschöpft, dass uns an diesem nichts weiter im Wesentlichen interessieren kann, wenn wir die Eigentümlichkeit seiner Art begriffen haben. Die alte Jungfer mag noch ein besonderes Interesse haben für die individuellen Eigenheiten ihres Schoßhündchens. Allgemeine Aufmerksamkeit können solche Eigentümlichkeiten nicht erregen. Ganz anders liegt die Sache beim Menschen. Jedes Individuum wird uns hier zum Problem. Die Art erschöpft sich nicht in dem Einzelwesen. Jeder Mensch gibt uns für sich ein Rätsel auf. Ein psychologisches Rätsel für den Erklärer; eine künstlerische Aufgabe für den Darsteller. Das hat Balzac nicht begriffen. Er hat deshalb keine Einzelmenschen, keine Individuen dargestellt. Das Letzte fehlt allen seinen Gestalten. Wir sehen in ihnen Vertreter ihrer sozialen Typen. Die Interessen, die Ziele, die Lebensführungen ihres Standes beherrschen sie und schweben über ihren Häuptern wie fixe Ideen. Das soziale Kostüm, das Milieu allein ist gezeichnet. Der Mensch ist nur ein Exemplar. Die Wahrheit der Weltanschauung Balzac[s] wird erst enthüllt, wenn auch das Individuelle, über das er hinweggeht, naturwissenschaftlich klar vor uns steht. So müssen wir heute Balzac verstehen. Dann werden wir in ihm den Ahnherrn manches gegenwärtigen Vertreters der neuen Weltanschauung sehen, der im Grunde auch nicht bis zu dem Punkte vorgedrungen ist, wo das Individuum anfängt. Es ist, um einen der Größten zu nennen, die geistige Tragik Nietzsches, dass er den Menschen nie bis in die Geheimnisse der Individualität hinein verfolgt hat. Für Nietzsche, den so oft als Individualisten Charakterisierten, existieren auf breiten Gebieten fast nur Gattungsideen. Den Proletarier, den Christen, das Weib, den Gelehrten und viele andere sah Nietzsche nur als Gattungen. Und aus diesem Umstande erklären sich viele Widersprüche bei Nietzsche. Im Grunde widersprechen sich alle Behauptungen Nietzsches, die er als Beobachter, als Philosoph macht, mit seinen Schlüssen, Urteilen, die er bildet. Was er vom Einzelnen hätte sagen sollen, behauptet er als allgemein charakteristische Wahrheiten. Er leidet unter demselben Vorurteile, unter dem Balzac Romane geschrieben hat. Das Ziehen der letzten Konsequenzen, der wirklich unbefangene Blick auf die Wirklichkeit mangelt beiden. Sie können die an der Hand der Naturwissenschaft gewonnenen Wahrheiten nicht auf die menschliche Gesellschaft anwenden. Sie übertragen das dort Gültige einfach hierher. Aber in dieser wörtlichen Übertragung ist es falsch. Wenn wir Heutigen uns durch die lange Reihe der Balzac’schen Romane durchwinden, dann stehen wir da, wie Hölderlin vor den Menschen seiner Zeit: wir sehen Herren und Diener, Aristokraten und Volk, Bauern und Bürger; aber Menschen sehen wir nicht. Endlich muss die Einsicht gewonnen werden, dass wir die großen Propheten der modernen Weltanschauung nur dann verstehen, wenn wir im richtigen Augenblicke über sie hinauszugehen verstehen. Auch Goethe verstehen wir heute nicht dadurch, dass wir zu seinen Ehren Feste veranstalten, dass wir seine Worte nachsprechen und kommentieren, sondern dadurch, dass wir die Schlüsse aus seinen Ansichten ziehen, die er noch nicht ziehen konnte. Die Geschichte geht uns nur insoweit etwas an, als sie unsere eigene Tätigkeit fördert.