Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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22. “The Dissatisfied” novel by Emil Marriot
Berlin 1880, published by Freund & Jeckel (K. Freund)
The present lacks the courage to recognize the contemporary. We either do not dare or do not want to take a firm stand for an original aspiration that emerges among us. To show one's colors, to take a definite stand has so much that is unpleasant in its wake. Nobody needs to be afraid of being taken to task by anyone if they talk about a book in a way that has to be described as "not cold and not warm". The talents that arise in our midst naturally suffer from this. They struggle to come through.
When Emil Marriot's novel "Spiritual Death" and his novellas "With the Tonsure" were published, this perception was very clear. Everyone was talking about the author's decisive talent. Everyone had to admit that the stories were captivating, but no one could say what was original about these priestly tales. Priestly love has been treated in many different ways, but for the most part the priest feels that not being able to follow the urge of his heart is a shackle of his profession. The love that dwells in his heart makes celibacy seem unjustified. In Marriot's case, the priest's love for women seems unjustified, and the necessary priestly abstinence is always more important to him than his feelings. Marriot describes the struggles that this untouchable priest, who remains faithful to dogma, has to go through in his soul at every stage. The novella "Asceticism" is a masterpiece of the art of psychological development. The tasks set here are as subtle as they are exciting in a higher sense. That is why these writings are also readable for serious people who are used to thinking in a disciplined way. The majority of our narrative literature, with its lumpen, feuilletonistic, frivolous, witty style, can no longer be enjoyed by people who can think. Yet Emil Marriot has an outstanding gift for drawing characters. He draws a character with just a few strokes; indeed, that is his strongest point. This is also evident in the novel "Die Unzufriedenen", which preceded the above-mentioned works - it appeared years ago in a Viennese newspaper and is now being published for the first time in book form. The inwardly well-disposed girl in a decayed, morally degenerate family, with all her missteps and the wrong turns she takes, is excellently portrayed. Mignon's goodness, admittedly often disfigured by moral filth, contrasts sharply with the depravity of her sister Laura. Although placed in the worst possible light by her surroundings, and thus abandoned by the man whose heart already belonged to her, Mignon finds the latter again and knows how to prove her innocence to him. Significant in its characterization, with many great traits, this novel probably still shows some confusion in its composition.
It was folly to call Emil Marriot a realist, to place him in the much-popular aesthetic categories. There is also an idealism in the gift of finding the core points of a character in order to portray him in a few sentences in a way that is possible in life, indeed a much more justified one than in the invention of fantastic characters who could not take a step in reality.
22. «Die Unzufriedenen» Roman von Emil Marriot
Berlin 1880, Verlag von Freund & Jeckel (K. Freund)
Der Gegenwart fehlt der Mut der Anerkennung des Zeitgenössischen. Entschieden eintreten für ein ursprüngliches Streben, das unter uns auftritt, wagt man entweder nicht oder will es nicht. Farbe bekennen, bestimmte Stellung nehmen hat ja so viel des Unangenehmen im Gefolge. Niemand braucht sich zu fürchten, von irgendjemandem zur Rede gestellt zu werden, wenn er in einer Weise über ein Buch spricht, die mit «nicht kalt und nicht warm» bezeichnet werden muss. Darunter leiden natürlich die Talente, die in unserer Mitte erstehen. Sie ringen sich nur schwer durch.
Als Emil Marriots Roman «Der geistliche Tod» und seine Novellen «Mit der Tonsur» erschienen, konnte man diese Wahrnehmung ganz deutlich machen. Jedermann sprach von der entschiedenen Begabung des Verfassers. Jedermann musste das Fesselnde der Erzählung zugeben, aber worinnen das Ursprüngliche, das durchaus Originelle dieser Priestergeschichten besteht, wusste niemand zu sagen. Priesterliebe hat ja eine vielfache Behandlung erfahren; zumeist aber empfindet es der Priester als Fessel seines Berufes, dem Drange seines Herzens nicht folgen zu können. Die Liebe, die in seinem Herzen wohnt, lässt ihn den Zölibat als unberechtigt erscheinen. Bei Marriot erscheint dem Priester für sich die Liebe zum Weibe durchaus unberechtigt, und die notwendige priesterliche Enthaltsamkeit steht ihm immer höher als sein Gefühl. Welche Kämpfe dieser dem Dogma treu bleibende, unantastbare Priester in seiner Seele durchzumachen hat, das schildert Marriot in allen Phasen. Die Novelle «Askese» ist geradezu ein Meisterwerk an psychologischer Entwicklungskunst. Die Aufgaben, die hier gestellt werden, sind ebenso feinsinnig wie in ihrer Ausführung spannend im höheren Sinne. Deswegen sind diese Schriften auch für den ernsten Menschen, der gewohnt ist, diszipliniert zu denken, lesbar. Der größte Teil unserer Erzählungsliteratur mit dem verlumpten, feuilletonistisch-leichtfertigen, geistreichelnden Stil ist ja für Leute, die denken können, ohnedies nicht mehr zu genießen. Dabei besitzt Emil Marriot in ganz hervorragender Weise die Gabe des Charakterzeichnens. Mit wenigen Strichen zeichnet er einen Charakter hin; ja, das ist sogar seine stärkste Seite. Diese ist auch in dem Romane «Die Unzufriedenen», der der Entstehung nach den oben erwähnten Werken vorausgegangen — er ist nämlich vor Jahren schon in einer Wiener Zeitung erschienen und jetzt nur zum ersten Male in Buchform ausgegeben - nicht zu verkennen. Das innerlich gut veranlagte Mädchen in einer verlotterten, moralisch verkommenen Familie mit all ihren Fehltritten und den Irrwegen, die sie macht, ist trefflich dargestellt. Die freilich vielfach von moralischem Schmutz verunstaltete Gutheit Mignons tritt in scharfen Kontrast zur Lasterhaftigkeit ihrer Schwester Laura. Obgleich von ihrer Umgebung in das schlechteste Licht gestellt, dadurch von dem Manne, dessen Herz bereits ihr gehörte, verlassen, findet Mignon diesen Letzteren wieder und weiß ihm ihre Unschuld zu beweisen. In der Charakteristik bedeutend, mit vielen großen Zügen, zeigt dieser Roman wohl noch einige Zerfahrenheit in der Komposition.
Es war eine Torheit, Emil Marriot, um ihn in die vielbeliebten ästhetischen Kategorien einzureihen, einen Realisten zu nennen. In der Gabe, die Kernpunkte eines Charakters zu finden, um ihn in ein paar Sätzen lebensmöglich hinzustellen, liegt auch ein Idealismus, ja ein viel mehr berechtigter als in dem Erfinden phantastischer Personen, die keinen Schritt in der Wirklichkeit machen könnten.