Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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27. “On the Psychology of Our Time” by Dr. R.M. Saitschik
Bern 1892, Fr. Semminger
Books in which a full, whole personality expresses itself are not often to be found. Here is one. Saitschick is a master at portraying some of the characteristic peculiarities of our time with a sharp edge. A spirited, purposeful individuality shimmers out at us from every page of the book. A sharp eye looks into the weaknesses of the present. I find the nervous, hasty, longing and purposeful, but also the machine-like, unimaginative hustle and bustle of our era drawn in the right strokes. Every sentence is such a line. Here are just a few examples: "We cannot see where time is taking us, an eerie darkness shrouds the future of our culture, the more powerful and distinctive our hearing has become." "Weltschmerz was already resounding on the threshold of our century, later to be elevated to a philosophical system of pessimism. The duality of reality and the ideal had to lead to a dualism in thinking and feeling." "Capitalism has turned man into a machine; our science, which serves and is influenced by capital, has reduced the scholar to a scientific machine." "Our society no longer possesses whole men who see in themselves a self-contained unity which stands in a definite and fixed relation to all nature; our society no longer has a world view." And the individual characteristics of the present are not merely enumerated, but the phenomena are consistently presented in their context, one illuminated and justified by the other, so that the title of the book "On the psychology of our time" seems fully justified. I was particularly touched by the fact that the author knows how to correctly assess a fundamental error of our time: cowardice in matters of thought. No one is able to recognize the truth who does not have the philosophical courage to penetrate the depths of problems. We must boldly stretch out our spiritual feelers to their full length if they are to be touched by things in the right way. Those who immediately draw them in at the slightest resistance can never reach reality. The dullness of our thinking is our fundamental evil. Instead of boldly drilling into the world, we shy away from every difficulty and sense the limits of knowledge everywhere.
27. «Zur Psychologie Unserer Zeit» von Dr. R.M. Saitschik
Bern 1892, Fr. Semminger
Bücher, in denen sich eine volle, ganze Persönlichkeit ausspricht, sind nicht oft zu finden. Hier ist eines. Saitschick versteht es meisterhaft, einige charakteristische Eigentümlichkeiten unserer Zeit in scharfem Gepräge darzustellen. Von jeder Seite des Buches schimmert uns eine temperamentvolle, zielbewusste Individualität entgegen. Ein scharfes Auge sieht hier in die Schwächen der Gegenwart. Das nervöse, hastige, sehnsuchtsvolle und zielbewusste, aber auch das maschinenmäßige, ideenlose Treiben unserer Epoche finde ich in richtigen Strichen gezeichnet. Jeder Satz ist ein solcher Strich. Nur ein paar Beispiele sollen angeführt werden: «Wir sehen nicht, wohin uns die Zeit mit sich führt, ein schauerliches Dunkel verhüllt die Zukunft unserer Kultur, desto mächtiger und ausgeprägter wurde unser Gehör.» «Schon an der Schwelle unseres Jahrhunderts ertönte der Weltschmerz, um später zu einem philosophischen System des Pessimismus erhoben zu werden. Die Zweiheit der Wirklichkeit und des Ideals musste zu einem Dualismus im Denken und Fühlen führen.» «Der Kapitalismus hat den Menschen zur Maschine gemacht, unsere Wissenschaft, die dem Kapitale dient und von ihm beeinflusst wird, hat den Gelehrten zur wissenschaftlichen Maschine herabgedrückt.» «Unsere Gesellschaft besitzt schon keine ganzen Menschen mehr, die in sich eine geschlossene Einheit erblicken, welche zu der ganzen Natur in einem bestimmten und festen Verhältnisse steht; unsere Gesellschaft hat keine Weltanschauung mehr.» Und nicht bloß aufgezählt sind die einzelnen Kennzeichen der Gegenwart, sondern die Erscheinungen sind folgerecht in ihrem Zusammenhange dargestellt, die eine durch die andere beleuchtet und begründet, sodass uns der Titel des Buches «Zur Psychologie unserer Zeit» vollauf berechtigt erscheint. Mich hat es besonders sympathisch berührt, dass der Verfasser einen Grundfehler unserer Zeit richtig zu beurteilen weiß: die Feigheit in Dingen des Denkens. Niemand vermag nämlich die Wahrheit zu erkennen, der nicht den philosophischen Mut hat, in die Tiefen der Probleme zu dringen. Wir müssen unsere geistigen Fühler kühn, ihrer ganzen Länge nach, ausstrecken, wenn sie von den Dingen in der rechten Weise berührt werden sollen. Wer sie bei dem geringsten Widerstande sogleich einzieht, der kann niemals die Wirklichkeit erreichen. Die Stumpfheit unseres Denkens ist unser Grundübel. Statt keck sich in die Welt einzubohren, schrecken wir vor jeder Schwierigkeit zurück und wittern überall Erkenntnisgrenzen.