Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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43. “Literary Education”
The former literary councillor in Leipzig, Rudolf von Gottschall, introduces a new biweekly publication called “Das litterarische Echo” with an essay bearing the above title. It is certainly not my intention to make life difficult for the new venture, despite the fact that the aforementioned speaker has quite tastefully concluded the article with an attack on the existing literary magazines. He probably considers the “Magazin für Literatur” to be one of those literary journals that he describes as “a hodgepodge of opinions and standards”, “a playground for a criticism that strays in all directions of the compass”.
It is not easy to discern from Mr. von Gottschall's article what he wants. He complains that general, humanistic education is on the decline. He even complains that “the Latin essay has been eliminated from the schoolwork of the higher grammar school classes”. I can only read one thing from Mr. von Gottschall's essay: He laments the extinction of literary orators of the type of the unctuous Moriz Carriere and of – Mr. von Gottschall himself, who have reached the pinnacle of wisdom by acquiring a few scraps of Hegelian philosophy and aesthetics, and who have not participated in the great revolution of the minds that has taken place through the scientific way of thinking in the second half of this century. It is quite characteristic of Mr. von Gottschall that he says: “On the whole, the main bearers of literary education are the women.” He is, of course, referring to the education of women, which has adopted the characterized aesthetic verbiage and from which women who understand the spirit of the present turn away.
If Mr. von Gottschall were to edit a literary magazine today, it would contain only opinions that could have been written quite well in 1832. Just as one finds only such opinions in the tedious four volumes of “German National Literature in the Nineteenth Century.”
The way of thinking and feeling that is possible on the basis of the century's scientific achievements is not there for Mr. von Gottschall. He has no sense of educating young people in this way of thinking; rather, he would like the Latin essay to be reintroduced into the schoolwork of the higher grammar school classes.
Mr. von Gottschall is one of those lucky people who know everything. They can tell exactly what is artistically valuable and what is not. They know how to classify. So they will edit a magazine as follows: I accept everything that meets my aesthetic judgment. Because I am right and everyone else is wrong. My magazine must have a uniform character.
We others are not as fortunate as Mr. von Gottschall. We have formed our views and perceptions under the influence of scientific progress. We have not remained untouched by the fact that Darwin has reshaped all the perceptions and ideas that have been cultivated over the centuries, as Mr. von Gottschall has. But at the same time, we know that the new worldview can take on different forms in different minds. We do not have any stereotyped views like Mr. von Gottschall. We also accept the views of others. We know that there is a struggle for the existence of opinions.
That is why we have to edit a magazine differently from the way Mr. von Gottschall wants. The editor represents his point of view with all the strength he is capable of. But he also allows other opinions to be heard. He is even proud to offer his readers a “playground for a critique that diverges in all directions of the compass”. He wants every opinion that is formed on sufficient premises to be represented. What Mr. Gottschall considers a disadvantage, I, for example, claim as an advantage.
I love freedom. I love it not only in the political sense, as I expressed it in my reply to J. H. Mackay's letter to me in issue 39, but also in the sense of the intellectual exchange that a magazine has to convey. And just as I am confident that people can thrive best in the sun of freedom in economic and ethical terms, I also believe that intellectual life fares best when opinions and views are allowed to battle it out in free development.
This is how I have done it since I have been editing the “Magazin [für Literatur]”, and this is how I will continue to do it, even if Mr. von Gottschall should contemptuously include this journal in the group of those that are a “playground” for “a criticism that strays in all directions of the compass”.
43. «Literarische Bildung»
Der alte Literaturhofrat in Leipzig, Rudolf von Gottschall, leitet mit einem Aufsatze, der obigen Titel trägt, eine neuerscheinende Halbmonatschrift «Das litterarische Echo» ein. Es ist wahrhaftig nicht meine Absicht, dem neuen Unternehmen das Leben sauer zu machen, trotzdem sein genannter Vorredner recht geschmackvoll den Artikel mit einem Ausfall auf die bestehenden literarischen Zeitschriften schließt. Er rechnet das «Magazin für Literatur» wahrscheinlich unter diejenigen Literaturblätter, die er als «ein Sammelsurium von Meinungen und Maßstäben», «einen Tummelplatz für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt», bezeichnet.
Es ist nicht gerade leicht, aus des Herrn von Gottschalls Artikel zu erkennen, was er will. Er klagt darüber, dass die allgemeine, humanistische Bildung im Abnehmen begriffen ist. Er klagt sogar darüber, dass «der lateinische Aufsatz aus den Schülerarbeiten der höheren Gymnasialklassen gestrichen worden ist». Ich kann aus dem Aufsatz des Herrn von Gottschall nur das eine herauslesen: Er beklagt das Aussterben der literarischen Schönredner von der Art des salbungsvollen Moriz Carriere und des - Herrn von Gottschall selbst, die den Gipfel der Weisheit erklommen haben durch Aneignung einiger Brocken der Hegel’schen Philosophie und Ästhetik, und welche die große Revolutionierung der Geister nicht mitgemacht haben, die sich durch die naturwissenschaftliche Denkweise in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vollzogen hat. Recht charakteristisch für Herrn von Gottschall ist, dass er sagt: «Im Ganzen bleibt als Hauptträgerin der literarischen Bildung die Frauenwelt übrig.» Er hat natürlich die Frauenbildung im Sinne, welche sich die charakterisierte ästhetische Schönrednerei angeeignet hat, und von der sich die Frauen abwenden, die den Geist der Gegenwart verstehen.
Redigierte Herr von Gottschall heute eine literarische Zeitschrift, so fände man darinnen nur Meinungen, die im Jahre 1832 ganz gut hätten geschrieben werden können. Ebenso wie man in den ermüdenden vier Bänden «Deutsche NationalLiteratur im neunzehnten Jahrhundert» nur solche Meinungen findet.
Die auf Grund der naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Jahrhunderts mögliche Denk- und Empfindungsweise ist für Herrn von Gottschall nicht da. Er hat keinen Sinn dafür, die Jugend in dieser Denkweise zu erziehen; er möchte vielmehr, dass der lateinische Aufsatz in die Schülerarbeiten der höheren Gymnasialklassen wieder eingeführt werde.
Herr von Gottschall gehört zu jenen Glücklichen, die alles wissen. Sie können genau unterscheiden, was künstlerisch wertvoll ist und was nicht. Sie wissen zu klassifizieren. Sie werden also eine Zeitschrift redigieren wie folgt: Ich nehme alles an, was meinem ästhetischen Urteile entspricht. Denn ich habe Recht, und alle andern haben Unrecht. Meine Zeitschrift muss ein einheitliches Gepräge tragen.
Wir andern sind nicht so glücklich wie Herr von Gottschall. Wir haben unsere Anschauungen und Empfindungen unter dem Einflusse der naturwissenschaftlichen Fortschritte gebildet. Dass durch Darwin alle durch die Jahrhunderte großgezogenen Empfindungen und Vorstellungen umgestaltet worden sind: davon sind wir nicht unberührt geblieben wie Herr von Gottschall. Aber wir wissen zugleich, dass die neue Weltanschauung in den einzelnen Köpfen verschiedene Formen annehmen kann. Wir haben keine schablonenhaften Ansichten wie Herr von Gottschall. Wir lassen auch den andern gelten. Wir wissen, dass es einen Kampf ums Dasein der Meinungen gibt.
Deshalb müssen wir eine Zeitschrift anders redigieren, als Herr von Gottschall will. Der Herausgeber vertritt seine Ansicht mit aller Kraft, deren er fähig ist. Aber er lässt auch andere Meinungen zu Worte kommen. Er ist sogar stolz darauf, seinen Lesern einen «Tummelplatz für eine Kritik zu bieten, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt». Er will, dass jede auf genügenden Voraussetzungen gebildete Anschauung vertreten wird. Was in Herrn Gottschalls Augen ein Nachteil ist, das nehme ich zum Beispiel als einen Vorzug in Anspruch.
Ich liebe die Freiheit. Ich liebe sie nicht nur auf politischem Gebiete in dem Sinne, wie ich es in meiner Antwort auf J. H. Mackays Brief an mich in Nummer 39 ausgesprochen habe, ich liebe sie auch auf dem Felde des geistigen Verkehrs, den eine Zeitschrift zu vermitteln hat. Und wie ich das Vertrauen habe, dass die Menschen in ökonomischer und ethischer Beziehung am besten in der Sonne der Freiheit gedeihen können, so habe ich auch den Glauben, dass das geistige Leben am besten fährt, wenn die Meinungen und Ansichten in freier Entwickelung miteinander kämpfen.
So habe ich es gehalten, seit ich das «Magazin [für Literatur]» redigiere, und so werde ich es halten, auch wenn Herr von Gottschall diese Zeitschrift verächtlich einreihen sollte in die Schar derer, die ein «Tummelplatz» sind «für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt».