Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
Automated Translation
66. Correction
Novel by Emma Böhmer
Dresden and Leipzig, Verlag von Carl Reißner, 1901
The suffering of the young girl, who, contrary to all healthy nature, has to develop within a “correct” family life, is portrayed by Gabriele Reuter in her well-known novel “Aus guter Familie” with consummate psychological skill. The reader of this novel must be stirred to a lively sense of the depth of this problem. But one also senses that the modern question of fate raised here can be posed in more than one way. In her recently published novel “Inkorrekt”, Emma Böhmer has posed this question in a way that is of the greatest interest to observers of modern social conditions. We get to know the author as a serious artist and a keen observer. She describes with a certain lyrical warmth that reveals in every sentence the degree to which she embraces the figures of her imagination. There is a great deal of compositional talent to be recognized in the way Emma Böhmer contrasts the characters with each other. Two sisters develop from a “good family”. One becomes what is expected according to the family's philosophy of life. She meets people as the customs of her class demand; she strives to please men, but only in the correct mask of well-behaved reserve; she only presents herself to people as the daughter of a “well-educated” family, because she only reads scandalous novels in secret and never forgets to put them away safely when she interrupts her reading. She marries as noble daughters marry, so that nothing of the truth of inner life needs to be said in the hypocritical relationship between bride and bridegroom. Her marriage must be one that has two sides, a barren and empty one at home and a correct one towards society. The other sister, the main character of the novel, asserts the inner truth of her being, no matter how often she is forced to hide it within the circle of her proper family. She seeks ways to develop her artistic impulses. She has to do everything in this direction behind her parents' backs, because they can only see all this as a distortion of the true character of a girl. She finds a man who understands her soul's inclinations. If circumstances were favorable, this man would secure a position for himself and then, although he could never find the full sympathy of his parents as a writer, he would at least find “mercy” from them. And even if this were not the case, the two people would force themselves to live a life that meets their needs. But since an accident causes the man's sudden death, the situation takes a turn that, while it illuminates the unnatural environment in which the girl has developed, forces her personality, which is struggling for independence, to achieve complete liberation. She is found with the just-deceased lover. This means a scandal for all her “proper” relatives. She leaves her house and family and sets out on a “lonesome journey” in search of a life in freedom. As in the course of the preceding events, the peculiarities of the characters of the individual members of the “good family” become particularly apparent at the end, when what can only be considered a “scandal” occurs in their eyes. The personalities of the parents, as well as those of the two sisters, form contrasting figures, subtly differentiated by the way in which the character of each is distorted by a stereotyped way of life. The father is particularly interesting, in whose mind the bureaucrat's way of thinking struggles with a good heart in such a way that the reader also experiences a fierce battle of emotions between sympathy for a basically mild and noble person and aversion to a personality that is completely , but inwardly completely unfree personality.
I don't think anyone will put the novel down without the conviction that the author has given them the opportunity to delve into a few human souls in a stimulating way, which are truly worth the interest. The presentation is characterized by artistic brevity. Nothing is said that is not required by the nature of the task at hand. All of these are characteristics that can be considered good omens for the author's future career.
66. Inkorrekt
Roman von Emma Böhmer
Dresden und Leipzig, Verlag von Carl Reißner, 1901
Die Leidensgeschichte des jungen Mädchens, das aller gesunden Natur zuwider sich innerhalb eines «korrekten» Familienlebens entwickeln muss, hat Gabriele Reuter in ihrem weit bekannten Roman «Aus guter Familie» mit vollendeter psychologischer Kunst dargestellt. Welcher Vertiefung dieses Problem fähig ist, davon muss in dem Leser dieses Romans ein lebhaftes Gefühl erregt werden. Man empfindet aber auch, dass die hier aufgeworfene moderne Schicksalsfrage in mehr als einer Art gestellt werden kann. Emma Böhmer hat in ihrem soeben erschienenen Roman «Inkorrekt» diese Frage in einer Weise gestellt, die im höchsten Grade das Interesse des Beobachters moderner Gesellschaftsverhältnisse in Anspruch nimmt. Wir lernen in der Verfasserin eine ernst strebende Künstlerin und eine feine Beobachterin kennen. Sie schildert mit einer gewissen Iyrischen Wärme, die in jedem Satze den Anteil erkennen lässt, mit der sie die Gestalten ihrer Phantasie umfasst. Es ist viel Kompositionstalent in der Art zu erkennen, wie Emma Böhmer die Charaktere einander gegenüberstellt. Zwei Schwestern entwickeln sich aus einer «guten Familie» heraus. Die eine wird so, wie es nach den Lebensanschauungen dieser Familie sein soll. Sie kommt den Menschen entgegen, wie es die Sitten ihres Standes fordern; sie strebt danach, den Männern zu gefallen, aber sie tut es nur in der korrekten Maske der wohlanständigen Zurückhaltung; sie weiß vor den Leuten nur von Vorstellungen «gut erzogener» Tochter, denn sie liest anrüchige Romane nur im geheimen und vergisst nie, dieselben unter sicheren Verschluss zu bringen, wenn sie die Lektüre unterbricht. Sie verheiratet sich, wie vornehme Töchter sich verheiraten, sodass in dem heuchlerischen Verhältnisse zwischen Braut und Bräutigam nichts von einer Wahrheit des inneren Lebens mitzusprechen braucht. Ihre Ehe muss eine solche sein, die zwei Seiten hat, eine öde und leere im Hause, und eine korrekte nach außen hin, der Gesellschaft gegenüber. Die andere Schwester, die Hauptfigur des Romans, setzt die innere Wahrheit ihres Wesens durch, so viel sie auch gezwungen wird, diese innerhalb des Kreises ihrer korrekten Familie immer wieder und wieder zu verbergen. Sie sucht sich Wege, um ihre künstlerischen Antriebe zur Entfaltung zu bringen. Sie muss alles, was sie nach dieser Richtung hin tut, hinter dem Rücken ihrer Eltern tun, weil diese in alle dem nur Verkehrtheiten des wahren Mädchencharakters erblicken können. Sie findet den Mann, der den Neigungen ihrer Seele das rechte Verständnis entgegenbringt. Wären ihr die Verhältnisse günstig, so würde dieser Mann sich eine gesicherte Lebensstellung erringen und dann, trotzdem er als Literat die vollen Sympathien der Eltern niemals finden könnte, doch wohl wenigstens vor diesen «Gnade» finden. Und selbst, wenn dies nicht der Fall wäre, würden die beiden Menschen sich ein Leben erzwingen, das ihren Bedürfnissen entsprechend ist. Da aber ein Unfall den plötzlichen Tod des Mannes herbeiführt, nimmt die Sache eine Wendung, welche zwar die Unnatur, innerhalb der sich das Mädchen entwickelt hat, blitzartig erleuchtet, aber ihre nach Selbstständigkeit ringende Persönlichkeit zur völligen Befreiung nötigt. Sie wird bei dem eben gestorbenen Geliebten gefunden. Das bedeutet für alle ihre «korrekten» Angehörigen einen Skandal. Sie verlässt Haus und Familie und sucht auf «einsamer Fahrt» nach einem Leben in Freiheit. Wie auch schon im Verlaufe der vorhergehenden Tatsachen, so treten aber besonders die Charaktereigentümlichkeiten der einzelnen Glieder der «guten Familie» am Schlusse hervor, als sich ereignet, was in deren Augen eben nur als «Skandal» gelten kann. Ebenso sinnvoll wie die beiden Schwestern, bilden die Persönlichkeiten der Eltern Kontrastfiguren, fein unterschieden durch die Art, wie sich die durch eine schablonenhafte Lebensführung entstellte Charakteranlage in beiden äußert. Interessant ist besonders der Vater gezeichnet, in dessen Innerem die Vorstellungsart des Bureaukraten mit einem guten Herzen so kämpft, dass auch im Leser ein heftiger Streit der Gefühle entsteht zwischen der Sympathie mit einem im Grunde milden und edlen und der Abneigung gegenüber einer in Standesfesseln ganz gefangenen, innerlich doch durchaus unfreien Persönlichkeit.
Ich glaube nicht, dass jemand den Roman aus der Hand legen wird ohne die Überzeugung, dass ihm die Verfasserin Gelegenheit gegeben hat, sich auf anregende Art in ein paar Menschenseelen zu vertiefen, die des Interesses wahrhaft wert sind. Dabei ist die Darstellung von künstlerischer Knappheit. Nichts wird gesagt, was nicht durch die Natur der gestellten Aufgabe gefordert wäre. Alles Eigenschaften, die man gute Vorzeichen für die künftige Laufbahn der Verfasserin nennen darf.