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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32

Automated Translation

88. Marie Krestowski: “The Son”

A story by the Russian writer Marie Krestowski entitled “The Son” was recently published in the “Romanwelt” series edited by Felix Heinemann. It is well worth reading. A man has lost his wife and, after her death, lives on the memory of the happiness she once brought him and the feelings he has for the son she left him. In a captivating way, with a rare gift for depicting the soul, the story describes how certain events gradually teach the man that the woman's son is not his son, that the woman has betrayed him. The adulterer is also a childhood friend of the deceived man, whom he himself invited into his house and in whom he had complete trust. This great trustfulness, however, becomes somewhat untrue; instead, the effect of the realization on the man's mind is told in a captivating way. The mind's eye wanders far beyond the individual case while reading. How many similar untruths may prevail in life that are not revealed by the power of facts like this marital bliss! It is the nature of real poets to shape the individual case so individually that we cannot find a second one that is the same, and at the same time to express a great truth that we feel is shown countless times in reality.

88. Marie Krestowski: «Der Sohn»

In der von Felix Heinemann herausgegebenen «Romanwelt» erschien vor kurzem eine Erzählung der russischen Schriftstellerin Marie Krestowski «Der Sohn», die eine ganz besondere Beachtung verdient. Ein Mann hat seine Frau verloren und lebt nach ihrem Tode von der Erinnerung an das Glück, das ihm das innig geliebte Weib einst gebracht, und von den Gefühlen, die er für den Sohn hegt, den sie ihm hinterlassen hat. In fesselnder Weise, mit seltener Seelendarstellungsgabe wird nun geschildert, wie gewisse Vorgänge dem Mann allmählich die Erkenntnis beibringen, dass der Sohn der Frau nicht auch sein Sohn, dass ihm die Frau die Treue gebrochen hat. Der Ehebrecher ist noch dazu ein Jugendfreund des Betrogenen, den er selbst ins Haus geladen hat, zu dem er restloses Vertrauen gehabt hat. Diese große Vertrauensseligkeit wird allerdings etwas unwahr; dafür ist die Wirkung der Erkenntnis auf das Gemüt des Mannes in hinreißender Weise erzählt. Der Blick des Geistes schweift beim Lesen weit über den einzelnen Fall hinaus. Wie viel ähnliche Unwahrheit mag im Leben walten, die nicht durch die Macht der Tatsachen enthüllt wird gleich diesem Eheglück! Es ist die Art wirklicher Dichter, den einzelnen Fall so individuell zu gestalten, dass wir einen zweiten nicht finden können, der ihm gleicht, und zugleich eine große Wahrheit auszusprechen, von der wir die Empfindung haben, dass sie sich unzählige Male in der Wirklichkeit zeigt.