ANMERKUNGEN ZUR NEUAUFLAGE 1924

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16 «Diese Literatur ...»: Die Stimmung, die hinter diesem Urteil über die Art des philosophischen Schrifttums und das Interesse, das diesem entgegengebracht wird, liegt, ist aus der Geistesverfassung des wissenschaftlichen Strebens um die Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden. Seit dieser Zeit sind Erscheinungen zutage getreten, denen gegenüber dieses Urteil nicht mehr berechtigt erscheint. Man braucht nur an die blendenden Beleuchtungen zu denken, welche weite Lebensgebiete durch Nietzsches Gedanken und Empfindungen erfahren haben. Und in den Kämpfen, die sich zwischen den materialistisch denkenden Monisten und den Verteidigern einer geistgemäßen Weltanschauung abspielten und bis heute abspielen, lebt sowohl das Streben des philosophischen Denkens nach lebenerfülltem Gehalt wie auch ein weitgehendes allgemeines Interesse an den Rätselfragen des Daseins. Gedankenwege wie die aus der physikalischen Weltanschauung entsprungenen Einsteins sind fast zum Gegenstande allgemeiner Gespräche und literarischer Auslassungen geworden.
Und dennoch haben die Motive, aus denen damals dieses Urteil gefällt worden ist, auch heute noch Geltung. Schriebe man es heute nieder, man müßte es anders formulieren. Da es als ein nahezu altes heute wieder erscheint, ist es wohl angemessener, zu sagen, inwiefern es noch immer Geltung hat. - Goethes Weltanschauung, deren Erkenntnistheorie in der vorliegenden Schrift gezeichnet werden sollte, geht von dem Erleben des ganzen Menschen aus. Diesem Erleben gegenüber ist die denkende Weltbetrachtung nur eine Seite. Aus der Fülle des menschlichen Seins steigen gewissermaßen Gedankengestaltungen an die Oberfläche des Seelenlebens. Ein Teil dieser Gedankenbilder umfaßt eine Antwort auf die Frage: Was ist das menschliche Erkennen? Und es fällt diese Antwort so aus, daß man siebt: das menschliche Sein wird erst zu dem, worauf es veranlagt ist, wenn es sieh erkennend betätigt. Seelenleben ohne Erkenntnis wäre wie Menschenorganismus ohne Kopf; das heißt, es wäre gar nicht. Im Innenleben der Seele erwächst ein Inhalt, der wie der hungernde Organismus nach Nahrung, so nach Wahrnehmung von außen verlangt; und in der Außenwelt ist Wahrnehmungsinhalt, der sein Wesen nicht in sieh trägt, sondern es erst zeigt, wenn er mit dem Seeleninhalt vereinigt wird durch den Erkenntnisvorgang. So wird der Erkenntnisvorgang ein Glied in der Gestaltung der Welt-Wirklichkeit. Der Mensch schafft an dieser Welt-Wirklichkeit mit, indem er erkennt. Und wenn eine Pflanzenwurzel nicht denkbar ist ohne die Vollendung ihrer Anlagen in der Frucht, so ist nicht etwa nur der Mensch, sondern die Welt nicht abgeschlossen, ohne daß erkannt wird. Im Erkennen schafft der Mensch nicht für sich allein etwas, sondern er schafft mit der Welt zusammen an der Offenbarung des wirklichen Seins. Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein; das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit.
So angesehen wird Erkenntnistheorie ein Teil des Lebens. Und so muß sie angesehen werden, wenn sie an die Lebens-Weiten des Goethesehen Seelen-Erlebens angeschlossen wird. Aber an solche Lebens-Weiten knüpft auch Nietzsches Denken und Empfinden nicht an. Noch weniger dasjenige, was sonst als philosophisch gerichtete Welt- und Lebensanschauung seit der Niederschrift des in dieser Schrift als «Ausgangspunkt» bezeichneten enstanden ist. Alles dies setzt doch voraus, daß die Wirklichkeit irgendwo außer dem Erkennen vorhanden sei, und in dem Erkennen eine menschliche, abbildliche Darstellung dieser Wirklichkeit sieh ergeben soll, oder auch, sich nicht ergeben kann. Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, das wird kaum irgendwo empfunden. Die philosophisch Denkenden suchen das Leben und Sein außer dem Erkennen; Goethe steht im schaffenden Leben und Sein, indem er sieh erkennend betätigt. Deshalb stehen auch die neueren Weltanschauungsversuche außerhalb der Goetheschen Ideenschöpfung.
Diese Erkenntnistheorie möchte innerhalb derselben stehen, weil dadurch Philosophie Lebens-Inhalt und das Interesse an ihr lebensnotwendig wird.

17 Nicht das Aufwerfen von Fragen ist die Aufgabe der Wissenschaft: Fragen des Erkennens entstehen an der Anschauung der Außenwelt durch die menschliche Seelenorganisation. In dem Seelenimpuls der Frage liegt die Kraft, an die Anschauung so heranzudringen, daß diese mit der Seelenbetätigung zusammen die Wirklichkeit des Angeschauten zur Offenbarung bringt.

27 Diese unsere erste Tätigkeit ... reine Erfahrung nennen: Man sieht aus der ganzen Haltung dieser Erkenntnistheorie, daß es bei ihren Auseinandersetzungen darauf ankommt, eine Antwort auf die Frage zu gewinnen: Was ist Erkenntnis? Um dieses Ziel zu erreichen, wird zunächst die Welt der sinnlichen Anschauung einerseits und die gedankliche Durchdringung andrerseits ins Auge gefaßt. Und es wird nachgewiesen, daß im Durchdringen der beiden die wahre Wirklichkeit des Sinnenseins sich offenbart. Damit ist die Frage: «Was ist Erkennen?» dem Prinzipe nach beantwortet. Diese Antwort wird keine andere dadurch, daß die Frage ausgedehnt wird auf die Anschauung des Geistigen. Deshalb gilt, was in dieser Schrift über das Wesen der Erkenntnis gesagt wird, auch für das Erkennen der geistigen Welten, auf das sich meine später erschienenen Schriften beziehen. Die Sinnenwelt ist in ihrer Erscheinung für das menschliche Anschauen nicht Wirklichkeit. Sie hat ihre Wirklichkeit im Zusammenhange mit dem, was sich im Menschen über sie gedanklich offenbart. Die Gedanken gehören zur Wirklichkeit des Sinnlich-Angeschauten; nur daß sich, was im Sinnensein Gedanke ist, nicht draußen an diesem, sondern drinnen im Menschen zur Erscheinung bringt. Aber Gedanke und Sinneswahrnehmung sind ein Sein. Indem der Mensch sinnlich anschauend in der Welt auftritt, sondert er von der Wirklichkeit den Gedanken ab; dieser erscheint aber nur an einer anderen Stelle: im Seelen-Innern. Die Trennung von Wahrnehmung und Gedanke hat für die objektive Welt gar keine Bedeutung; sie tritt nur auf, weil der Mensch sich mitten in das Dasein hineinstellt. Für ihn entsteht dadurch der Schein, als ob Gedanke und Sinneswahrnehmung eine Zweiheit seien. Nicht anders ist es für die geistige Anschauung. Wenn diese durch die Seelenvorgänge auftritt, die ich in meiner späteren Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben habe, dann bildet sie wieder die eine Seite des - geistigen - Seins; und die entsprechenden Gedanken vom Geistigen bilden die andere Seite. Ein Unterschied tritt nur insofern auf, als die Sinneswahrnehmung durch den Gedanken gewissermaßen nach oben zum Anfang des Geistigen hin in Wirklichkeit vollendet, die geistige Anschauung von diesem Anfang an nach unten hin in ihrer wahren Wesenheit erlebt wird. Daß das Erleben der Sinneswahrnehmung durch die von der Natur gebildeten Sinne, das der Anschauung des Geistigen durch die erst auf seelische Art ausgebildeten geistigen Wahrnehmungsorgane geschieht, macht nicht einen prinzipiellen Unterschied.
In Wahrheit ist in meinen späteren Veröffentlichungen kein Verlassen der Idee des Erkennens vorhanden, die ich in dieser Schrift ausgebildet habe, sondern nur die Anwendung dieser Idee auf die geistige Erfahrung.

28 Bezüglich des Aufsatzes «Die Natur». Ich habe in den Schriften der «Goethe-Gesellschaft» zu zeigen versucht, daß dieser Aufsatz so entstanden ist, daß Tobler, der zur Zeit der Entstehung desselben mit Goethe in Weimar verkehrt hat, Ideen, die in Goethe als von diesem anerkannte gelebt haben, nach Gesprächen mit ihm niedergeschrieben hat. Diese Niederschrift ist dann im damals nur handschriftlich verbreiteten «Tiefurter Journal» erschienen. Man findet nun in Goethes Schriften einen von diesem viel später geschriebenen Aufsatz über die frühere Veröffentlichung. Da sagt Goethe ausdrücklich, daß er sich nicht erinnere, ob der Aufsatz von ihm sei, daß er aber Ideen enthalte, die zur Zeit seiner Erscheinung die seinigen waren. In meiner Abhandlung in den Schriften der «Goethe-Gesellschaft» habe ich nachzuweisen versucht, daß diese Ideen in ihrer Fortentwicklung in die ganze Goethesche Naturanschauung eingeflossen sind. Es sind nun nachträglich Ausführungen veröffentlicht worden, die für Tobler das volle Autorrecht des Aufsatzes «Die Natur in Anspruch nehmen. Ich möchte mich in das Streiten über diese Frage nicht mischen. Auch wenn man für Tobler die volle Originalität behauptet, so bleibt noch immer bestehen, daß in Goethe diese Ideen im Anfange der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts gelebt haben, und zwar so, daß sie sieh - auch nach seinem eigenen Bekenntnis - als der Anfang seiner umfassenden Naturanschauung erweisen. Persönlich habe ich keinen Grund, von meiner Ansicht in dieser Beziehung abzugehen, daß die Ideen in Goethe entstanden sind. Aber auch, wenn sie es nicht wären, so erlebten sie in seinem Geist ein Dasein, das unermeßlich fruchtbar geworden ist. Für den Betrachter der Goetheschen Weltanschauung sind sie nicht an sieh, sondern im Verhältnisse zu dem, was aus ihnen geworden ist, von Bedeutung.

41 Erscheinung für die Sinne: In diesen Ausführungen liegt schon die Andeutung auf die Anschauung des Geistigen, von der meine späteren Schriften reden, im Sinne dessen, was in der obigen Anmerkung zu Seite 12 gesagt worden ist.

42 Ganz anders verhielte es sich: Mit dieser Ausführung ist der Anschauung des Geistigen nicht widersprochen, sondern es wird darauf hingedeutet, daß für die Sinnes-Wahrnehmung, um zu deren Wesen zu gelangen, nicht gewissermaßen durch ein Durchstoßen derselben und ein Vordringen zu einem Sein hinter ihr zu deren Wesen zu gelangen ist, sondern durch ein Zurückgehen zu dem Gedanklichen, das im Menschen sich offenbart.

109 Keiner Forschungsweise... etwas anzufangen: In meinen Schriften wird man in verschiedener Art über «Mystizismus» und «Mystik» gesprochen finden. Daß zwischen diesen verschiedenen Arten kein Widerspruch ist, wie man ihn hat herausphantasieren wollen, kann man jedesmal aus dom Zusammenhange ersehen. Man kann einen allgemeinen Begriff von «Mystik» bilden. Danach ist sie der Umfang dessen, was man von der Welt durch inneres, seelisches Erleben erfahren kann. Dieser Begriff ist zunächst nicht anzufechten. Denn eine solche Erfahrung gibt es. Und sie offenbart nicht nur etwas über das menschliche Innere, sondern über die Welt. Man muß Augen haben, in denen sieh Vorgänge abspielen, um über das Reich der Farben etwas zu erfahren. Aber man erfährt dadurch nicht nur etwas über das Auge, sondern über die Welt. Man muß ein inneres Seelenorgan haben, um gewisse Dinge der Welt zu erfahren.
Aber man muß die volle Begriffsklarheit in die Erfahrungen des mystischen Organes bringen, wenn Erkenntnis entstehen soll. Es gibt aber Leute, die wollen in das «Innere» sich flüchten, um der Begriffsklarheit zu entfliehen. Diese nennen «Mystik», was die Erkenntnis aus dem Lieht der Ideen in das Dunkel der Gefühlswelt - der nicht von Ideen erhellten Gefühlswelt - führen will. Gegen diese Mystik sprechen meine Schriften überall; für die Mystik, welche die Ideenklarheit denkerisch festhält und zu einem seelischen Wahrnehmungsorgan den mystischen Sinn macht, der in derselben Region des Menschenwesens tätig ist, wo sonst die dunklen Gefühle walten, ist jede Seite meiner Bücher geschrieben. Dieser Sinn ist für das Geistige völlig gleichzustellen dem Auge oder Ohr für das Physische.

126 Freiheitsphilosophie: Die Ideen dieser Philosophie sind später weiter entwickelt worden in meiner «Philosophie der Freiheit» (1894).

128 Psychologie, Volkskunde und Geschichte sind die hauptsächlichsten Formen der Geisteswissenschaft: Nachdem ich nunmehr die verschiedenen Gebiete dessen, was ich «Anthroposophie» nenne, bearbeitet habe, müßte ich - schriebe ich dies Schriftchen heute - diese «Anthroposophie» hier einfügen. Vor vierzig Jahren, beim Schreiben desselben, stand mir als «Psychologie», in einem allerdings ungebräuchlichen Sinne, etwas vor Augen, das die Anschauung der gesamten «Geistes-Welt» (Pneumatologie) in sich einschloß. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, daß ich damals diese «Geistes-Welt» von der Erkenntnis des Menschen ausschließen wollte.

134 Goethes Aufsatz «Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt»: Die Anmerkung ist nun dahin zu ergänzen, daß der von mir hier hypothetisch vorausgesetzte Aufsatz später im Goethe- und Schiller-Archiv wirklich aufgefunden worden und der Weimarischen Goethe-Ausgabe eingefügt worden ist.