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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Das Christentum als Mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums
GA 8

Mysterien und Mysterienweisheit

Etwas wie ein geheimnisvoller Schleier liegt über der Art, wie innerhalb der alten Kulturen diejenigen ihre geistigen Bedürfnisse befriedigten, welche nach einem tieferen religiösen und Erkenntnisleben suchten als die Volksreligionen bieten konnten. In das Dunkel rätselvoller Kulte werden wir geführt, wenn wir der Befriedigung solcher Bedürfnisse nachforschen. Jede Persönlichkeit, die solche Befriedigung findet, entzieht sich für einige Zeit unserer Beobachtung. Wir sehen, wie ihr zunächst die Volksreligionen nicht geben können, was ihr Herz sucht. Sie anerkennt die Götter; aber sie weiß, daß in den gewöhnlichen Anschauungen über die Götter die großen Rätsel fragen des Daseins sich nicht enthüllen. Sie sucht eine Weisheit, die sorglich eine Gemeinschaft von Priesterweisen hütet. Sie sucht Zuflucht bei dieser Gemeinschaft für die strebende Seele. Wird sie von den Weisen reif befunden, so wird sie von ihnen auf eine Art, die sich dem Auge des Außenstehenden entzieht, von Stufe zu Stufe hinaufgeführt zu höherer Einsicht. Was mit ihr nun vorgeht, verhüllt sich den Uneingeweihten. Sie scheint der irdischen Welt für einige Zeit völlig entrückt. Wie in eine geheime Welt versetzt erscheint sie. — Und wenn sie wieder dem Tageslicht gegeben ist, steht eine andere, eine völlig verwandelte Persönlichkeit vor uns. Eine Persönlichkeit, die nicht Worte findet, die erhaben genug sind, um auszudrücken, wie bedeutungsvoll das Erlebte für sie gewesen ist. Sie erscheint sich nicht bildlich bloß, sondern im Sinne höchster Wirklichkeit wie durch den Tod hindurchgegangen und zu neuem höheren Leben erwacht. Und sie ist klar darüber, daß niemand ihre Worte recht verstehen kann, der nicht ein Gleiches erlebt hat.

So war es mit den Personen, welche durch die Mysterien eingeweiht wurden in jenen geheimnisvollen Weisheitsinhalt, der dem Volke entzogen wurde und der über die höchsten Fragen Licht brachte. Neben der Volksreligion bestand diese «geheime» Religion der Auserwählten. Ihr Ursprung verschwimmt für den geschichtlichen Blick in das Dunkel des Völkerursprungs. Man findet sie bei den alten Völkern überall, soweit man darüber eine Einsicht gewinnen kann. Die Weisen dieser Völker reden mit der größten Ehrerbietung von den Mysterien. — Was wurde in ihnen verhüllt? Und was enthüllten sie dem, der in sie eingeweiht wurde?

Das Rätselhafte ihrer Erscheinung wird erhöht, wenn man gewahr wird, daß die Mysterien von den Alten zugleich als etwas Gefährliches angesehen wurden. Durch eine Welt von Furchtbarkeiten führte der Weg zu den Geheimnissen des Daseins. Und wehe dem, der unwürdig zu ihnen gelangen wollte. — Kein größeres Verbrechen gab es als den «Verrat» der Geheimnisse an Uneingeweihte. Mit dem Tode und der Güterkonfiskation wurde der «Verräter» gestraft. Man weiß, daß der Dichter Äschylus angeklagt wär, einiges von den Mysterien auf die Bühne gebracht zu haben. Er konnte dem Tode nur entgehen durch die Flucht zu dem Altar des Dionysos und durch den gerichtlichen Nachweis, daß er gar kein Eingeweihter war.

Vielsagend aber auch vieldeutig ist, was die Alten über diese Geheimnisse sagen. Der Eingeweihte ist überzeugt, daß es sündhaft ist, zu sagen, was er weiß; und auch daß es für den Uneingeweihten sündhaft ist, es zu hören. Plutarch spricht von dem Schrecken der Einzuweihenden und vergleicht den Zustand derselben mit der Vorbereitung zum Tode. Eine besondere Lebensweise mußte den Einweihungen vorangehen. Sie war dazu angetan, die Sinnlichkeit in die Gewalt des Geistes zu bringen. Fasten, einsames Leben, Kasteiungen und gewisse seelische Übungen sollten dazu dienen. Woran der Mensch im gewöhnlichen Leben hängt, sollte allen Wert für ihn verlieren. Die ganze Richtung seines Empfindungs- und Gefühlslebens mußte eine andere werden. — Man kann nicht im Zweifel sein über den Sinn solcher Übungen und Prüfungen. Die Weisheit, die dem Einzuweihenden dargeboten werden sollte, konnte nur dann die rechte Wirkung auf seine Seele tun, wenn er vorher seine niedere Empfindungswelt umgestaltet hatte. In das Leben des Geistes wurde er eingeführt. Er sollte eine höhere Welt schauen. Zu ihr konnte er ohne vorherige Übungen und Prüfungen kein Verhältnis gewinnen. Es kam eben auf dieses Verhältnis an. Wer über diese Dinge recht denken will, muß Erfahrungen über die intimen Tatsachen des Erkenntnislebens haben. Er muß empfinden, daß es zwei weit auseinanderliegende Verhältnisse gibt zu dem, was die höchste Erkenntnis darbietet. — Die Welt, die den Menschen umgibt, ist zunächst seine wirkliche. Er tastet, hört und sieht ihre Vorgänge. Er nennt diese deshalb, weil er sie mit seinen Sinnen wahrnimmt, wirklich. Und er denkt über sie nach, um sich über ihre Zusammenhänge aufzuklären. — Was dagegen in seiner Seele aufsteigt, ist ihm zuerst nicht in demselben Sinne Wirklichkeit. Es sind das eben «bloße» Gedanken und Ideen. Bilder der sinnlichen Wirklichkeit sieht er höchstens in ihnen. Sie haben selbst keine Wirklichkeit. Man kann sie ja nicht betasten; man hört und sieht sie nicht.

Es gibt ein anderes Verhältnis zu der Welt. Wer unbedingt an der eben geschilderten Art von Wirklichkeit hängt, wird es kaum begreifen. Es stellt sich für gewisse Menschen in einem Zeitpunkte ihres Lebens ein. Für sie kehrt sich das ganze Verhältnis zur Welt um. Sie nennen Gebilde, die in dem geistigen Leben ihrer Seele auftauchen, wahrhaft wirklich. Und was Sinne hören, tasten und sehen, dem schreiben sie nur eine Wirklichkeit niederer Art zu. Sie wissen, daß sie, was sie da sagen, nicht beweisen können. Sie wissen, daß sie von ihren neuen Erfahrungen nur erzählen können. Und daß sie mit ihren Erzählungen dem Andern so gegenüberstehen wie der Sehende mit der Mitteilung der Wahrnehmungen seines Auges dem Blindgeborenen. Sie unternehmen die Mitteilung ihrer inneren Erlebnisse in dem Vertrauen, daß um sie andere stehen, deren geistiges Auge zwar noch geschlossen ist, deren gedankliches Verstehen aber durch die Kraft des Mitgeteilten ermöglicht werden kann. Denn sie haben den Glauben an die Menschheit und wollen geistige Augenaufschließer sein. Sie können nur hinlegen die Früchte, die ihr Geist selbst gepflückt hat; ob der andere sie sieht, hängt davon ab, ob er Verständnis hat für das, was ein Geistesauge schaut. — Es ist im Menschen etwas, was ihn zunächst hindert, mit Geistesaugen zu sehen. Er ist zuerst gar nicht dazu da. Er ist, was er seinen Sinnen nach ist; und sein Verstand ist nur der Erklärer und Richter seiner Sinne. Diese Sinne würden ihre Aufgabe schlecht erfüllen, wenn sie nicht auf der Treue und Untrüglichkeit ihrer Aussagen beständen. Ein Auge wäre ein schlechtes Auge, das nicht von seinem Standpunkte aus die unbedingte Wirklichkeit seiner Gesichtswahrnehmungen behauptete. Das Auge hat für sich Recht. Es verliert auch sein Recht nicht durch das Geistesauge. Dies Geistesauge läßt nur zu, daß man die Dinge des sinnlichen Auges in einem höheren Lichte sieht. Man leugnet dann auch nichts von dem, was das sinnliche Auge geschaut hat. Aber von dem Gesehenen strahlt ein neuer Glanz aus, den man früher nicht gesehen hat. Und dann weiß man, daß man zuerst nur eine niedere Wirklichkeit gesehen hat. Man sieht nunmehr dasselbe; aber man sieht es eingetaucht in ein Höheres, in den Geist. Es handelt sich nun darum, ob man auch empfindet und fühlt, was man sieht. Wer allein dem Sinnlichen gegenüber mit lebendigen Empfindungen und Gefühlen dasteht, der sieht in dem Höheren eine Fata Morgana, ein «bloßes» Phantasiegebilde. Seine Gefühle sind eben nur auf das Sinnliche hingeordnet. Er greift ins Leere, wenn er die Geistesgebilde fassen will. Sie ziehen sich vor ihm zurück, wenn er nach ihnen tasten will. Sie sind eben «bloße» Gedanken. Er denkt sie; er lebt nicht in ihnen. Bilder sind sie ihm, unwirklicher als hinhuschende Träume. Als Schaumgebilde steigen sie auf, wenn er sich seiner Wirklichkeit gegenüberstellt; sie verschwinden gegenüber der massiven, in sich fest gebauten Wirklichkeit, von der ihm seine Sinne mitteilen. -Anders der, welcher seine Empfindungen und Gefühle gegenüber der Wirklichkeit verändert hat. Für den hat diese Wirklichkeit ihre absolute Standfestigkeit, ihren unbedingten Wert verloren. Nicht stumpf brauchen seine Sinne und seine Gefühle zu werden. Aber sie fangen an, an ihrer unbedingten Herrschaft zu zweifeln; sie lassen Raum für etwas anderes. Die Welt des Geistes fängt an diesen Raum zu beleben.

Eine Möglichkeit liegt hier, die furchtbar sein kann. Es ist die, daß der Mensch seine Empfindungen und Gefühle für die unmittelbare Wirklichkeit verliert und sich keine neue vor ihm auftut. Er schwebt dann wie im Leeren. Er kommt sich wie abgestorben vor. Die alten Werte sind dahin, und keine neuen sind ihm erstanden. Die Welt und der Mensch sind dann für ihn nicht mehr vorhanden. -Das ist aber gar nicht eine bloße Möglichkeit. Es wird für jeden, der zu höherer Erkenntnis kommen will, einmal Wirklichkeit. Er langt da an, wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt. Er ist dann nicht mehr in der Welt. Er ist unter der Welt — in der Unterwelt. Er vollzieht die -Hadesfahrt. Wohl ihm, wenn er nun nicht versinkt. Wenn sich vor ihm eine neue Welt auftut. Er schwindet entweder dahin; oder er steht als Verwandelter neu vor sich. In letzterem Falle steht eine neue Sonne, eine neue Erde vor ihm. Aus dem geistigen Feuer ist ihm die ganze Welt wiedergeboren.

Und so schildern die Eingeweihten, was durch die Mysterien aus ihnen geworden ist. Menippus erzählt, daß er nach Babylon gereist sei, um von den Nachfolgern des Zoroaster in den Hades und wieder zurück geführt zu werden. Er sagt, daß er auf seinen Wanderungen durch das große Wasser geschwommen sei; daß er durch Feuer und Eis gekommen sei. Man hört von den Mysten, daß sie durch ein gezücktes Schwert erschreckt worden seien, und daß dabei «Blut floß». Man versteht solche Worte, wenn man die Durchgangsstätte von der niederen zu der höheren Erkenntnis kennt. Man hat ja selbst gefühlt, wie alle feste Materie, wie alles Sinnliche zu Wasser zerflossen ist; man hatte ja allen Boden verloren. Alles, was man vorher als lebend empfunden hatte, war getötet worden. Wie ein Schwert durch den warmen Körper geht, ist der Geist durch alles sinnliche Leben gegangen; man hat das Blut der Sinnlichkeit fließen sehen.

Aber ein neues Leben ist erschienen. Man ist aus der Unterwelt emporgestiegen. Der Redner Aristides spricht davon. «Ich glaubte den Gott zu berühren, sein Nahen zu fühlen, und ich war dabei zwischen Wachen und Schlaf; mein Geist war ganz leicht, so daß es kein Mensch sagen und begreifen kann, der nicht «eingeweiht» ist.» Dieses neue Dasein ist nicht den Gesetzen des niederen Lebens unterworfen. Werden und Vergehen berühren es nicht. Man kann viel über das Ewige sprechen; wer nicht das damit meint, was die aussagen, die nach der Hadesfahrt davon sprechen, dessen Worte sind «Schall und Rauch». Die Eingeweihten haben eine neue Anschauung von Leben und Tod. Sie halten sich nun erst befugt, von Unsterblichkeit zu sprechen. Sie wissen, daß wer ohne Kenntnis derer, die aus den Weihen heraus von Unsterblichkeit sprechen, etwas von ihr sagt, das er nicht versteht. Ein solcher schreibt nur einem Dinge die Unsterblichkeit zu, das den Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen ist. — Nicht die bloße Überzeugung von der Ewigkeit des Lebenskerns wollen die Mysten gewinnen. Nach der Auffassung der Mysterien wäre eine solche Überzeugung ohne allen Wert. Denn nach solcher Auffassung ist in dem Nicht-Mysten das Ewige gar nicht lebendig vorhanden. Spräche er von einem Ewigen, so spräche er von einem Nichts. Es ist vielmehr dieses Ewige selbst, was die Mysten suchen. Sie müssen in sich das Ewige erst erwecken; dann können sie davon sprechen. Daher hat für sie das harte Wort des Plato volle Wirklichkeit, daß in Schlamm versinkt, wer nicht eingeweiht; und daß nur der in die Ewigkeit eingeht, der mystisches Leben durchgemacht hat. So nur auch können die Worte in dem Sophokles-Fragment verstanden werden: «Wie hochbeglückt gelangen jene ins Schattenreich — die eingeweiht sind. Sie leben dort allein -den andern ist nur Not und Ungemach bestimmt.»

Schildert man also nicht Gefahren, wenn man von den Mysterien redet? Ist es nicht ein Glück, ja ein Lebenswert höchster Art, den man demjenigen raubt, den man an das Tor der Unterwelt führt? Furchtbar ist doch die Verantwortlichkeit, die man dadurch auf sich lädt. Und dennoch: dürfen wir uns dieser Verantwortlichkeit entziehen? So waren die Fragen, die sich der Eingeweihte vorzulegen hatte. Er war der Meinung, daß zu seinem Wissen sich das Volksgemüt verhält, wie zum Licht das Dunkel. Aber in diesem Dunkel wohnt ein unschuldiges Glück. Es war die Meinung der Mysten, daß in dieses Glück nicht frevelhaft eingegriffen werden dürfe. Denn was wäre es zunächst denn gewesen: wenn der Myste sein Geheimnis «verraten» hätte? Er hätte Worte, nichts als Worte gesprochen. Nirgends wären die Empfindungen und Gefühle gewesen, die aus diesen Worten den Geist geschlagen hätten. Dazu hätte ja die Vorbereitung, hätten die Übungen und Prüfungen, hätte der ganze Wandel im Sinnesleben gehört. Ohne diese hätte man den Hörer in die Leerheit, in die Nichtigkeit geschleudert. Man hätte ihm genommen, was sein Glück ausmachte; und man hätte ihm nichts dafür geben können. Ja man hätte ihm nicht einmal etwas nehmen können. Denn mit bloßen Worten hätte man sein Empfindungsleben ja doch nicht ändern können. Er hätte nur bei den Dingen seiner Sinne Wirklichkeit fühlen, erleben können. Nicht mehr als eine furchtbare, lebenzerstörende Ahnung hätte man ihm geben können. Als ein Verbrechen hätte man das auffassen müssen. Es kann dies nicht mehr volle Gültigkeit haben für die Erringung der Geist-Erkenntnis in der Gegenwart. Diese kann begrifflich verstanden werden, weil die neuere Menschheit eine Begriffsfähigkeit hat, welche der alten fehlte. Heute kann es solche Menschen geben, die Erkenntnis der geistigen Welt durch eigenes Erleben haben; und ihnen können solche gegenüberstehen, die dieses Erlebte begrifflich verstehen. Eine solche Begriffsfähigkeit fehlte der älteren Menschheit. Es gleicht die alte Mysterienweisheit einer Treibhauspflanze, die in Abgeschlossenheit gehegt und gepflegt werden muß. Wer sie in die Atmosphäre der Alltagsanschauungen trägt, der gibt ihr eine Lebensluft, in der sie nicht gedeihen kann. Vor dem kaustischen Urteil moderner Wissenschaftlichkeit und Logik zerschmilzt sie in nichts. Entäußern wir uns deshalb eine Zeitlang aller Erziehung, die uns Mikroskop, Fernrohr und naturwissenschaftliche Denkweise gebracht haben; reinigen wir unsere täppisch gewordenen Hände, die zuviel mit Sezieren und Experimentieren beschäftigt waren, damit wir in den reinen Tempel der Mysterien treten können. Dazu ist wahre Unbefangenheit notwendig.

Es kommt für den Mysten zuerst auf die Stimmung an, in der er sich dem naht, was er als das Höchste, als die Antworten auf die Rätselfragen des Daseins empfindet. Gerade in unserer Zeit, in der man als Erkenntnis nur das Grob-Wissenschaftliche anerkennen will, wird es schwer, zu glauben, daß es in den höchsten Dingen auf eine Stimmung ankomme. Die Erkenntnis wird ja dadurch zu einer intimen Angelegenheit der Persönlichkeit gemacht. Für den Mysten ist sie aber eine solche. Man sage jemand die Lösung des Welträtsels! Man gebe sie ihm fertig in die Hand! Der Myste wird finden, daß alles leerer Schall ist, wenn nicht die Persönlichkeit in der rechten Art dieser Lösung gegenübertritt. Diese Lösung ist nichts; sie zerflattert, wenn nicht das Gefühl das besondere Feuer fängt, das notwendig ist. Eine Gottheit trete dir entgegen! Sie ist entweder nichts oder alles. Nichts ist sie, wenn du ihr entgegentrittst in der Stimmung, in der du den Dingen des Alltags begegnest. Sie ist alles, wenn du für sie vorbereitet, gestimmt bist. Was sie für sich ist, das ist eine Sache, die dich nicht berührt: ob sie dich läßt, wie du bist, oder ob sie aus dir einen anderen Menschen macht: darauf kommt es an. Aber das hängt lediglich von dir ab. Eine Erziehung, eine Entwicklung intimster Kräfte der Persönlichkeit muß dich vorbereitet haben, damit in dir entzündet, ausgelöst werde, was eine Gottheit vermag. Es kommt auf den Empfang an, den du dem bereitest, was dir entgegengebracht wird. Plutarch hat von dieser Erziehung Mitteilung gemacht; er hat von dem Gruß erzählt, den der Myste der Gottheit bietet, die ihm entgegentritt: «Denn der Gott begrüßt gleichsam einen jeden von uns, der sich ihm hier nahet, mit dem: Kenne dich selbst, was doch gewiß um nichts schlechter ist als der gewöhnliche Gruß: Sei gegrüßt. Wir aber erwidern darauf der Gottheit mit den Worten: Du bist, und bringen ihr damit den Gruß des Seins als den wahren, ursprünglichen und allein ihr zukommenden. -Denn wir haben eigentlich hier keinen Anteil an diesem Sein, sondern eine jede sterbliche Natur, indem sie zwischen Entstehung und Untergang in der Mitte liegt, zeigt bloß eine Erscheinung und ein schwaches und unsicheres Wähnen von sich selbst; bemüht man sich nun mit dem Verstande sie zu erfassen, so geht es wie bei stark zusammengepreßtem Wasser, welches bloß durch den Druck und das Zusammenpressen gerinnt und das, was von ihm umfaßt wird, verdirbt; der Verstand nämlich, indem er der allzu deutlichen Vorstellung eines jeden der Zufälle und der Veränderung unterworfenen Wesens nachjagt, verirrt sich bald zum Ursprung desselben, bald zu seinem Untergang, und kann nichts Bleibendes oder wirklich Seiendes auffassen. Denn man kann, wie Heraklit sich ausdrückt, nicht zweimal in derselben Welle schwimmen, und ebensowenig ein sterbliches Wesen zweimal in demselben Zustand ergreifen, sondern durch die Heftigkeit und Schnelligkeit der Bewegung zerstört es sich und vereinigt sich wieder; es entsteht und vergeht; es geht herzu und geht weg. Daher das, was wird, nie zum wahren Sein gelangen kann, weil die Entstehung nie aufhört oder einen Stillstand hat, sondern schon beim Samen die Veränderung anfängt, indem sie einen Embryo bildet, dann ein Kind, dann einen Jüngling, einen Mann, einen Alten und einen Greis, indem sie die ersten Entstehungen und Alter stets vernichtet durch die darauffolgenden. Daher ist es lächerlich, wenn wir uns vor dem einen Tode fürchten, da wir schon auf so vielfache Art gestorben sind und sterben. Denn nicht bloß, wie Heraklit sagt, ist der Tod des Feuers das Entstehen der Luft, und der Tod der Luft das Entstehen des Wassers, sondern man kann dieses noch deutlicher an dem Menschen selbst wahrnehmen; der kräftige Mann stirbt, wenn er ein Greis wird, der Jüngling, indem er ein Mann wird, der Knabe, indem er ein Jüngling wird, das Kind, indem es ein Knabe wird. Das Gestrige ist Sterben in dem Heutigen, das Heutige stirbt in dem Morgenden; keines bleibt oder ist ein Einziges, sondern wir werden Vieles, indem die Materie sich um ein Bild, um eine gemeinschaftliche Form herumtreibt. Denn wie könnten wir, wenn wir stets dieselben wären, jetzt an andern Dingen Gefallen finden als früherhin, die entgegengesetzten Dinge lieben und hassen, bewundern und tadeln, anderes reden, anderen Leidenschaften uns ergeben, wenn wir nicht auch eine andere Gestalt, andere Formen und andere Sinne annähmen? Denn ohne Veränderung läßt sich nicht wohl in einen andern Zustand kommen, und der, welcher sich verändert, ist auch nicht mehr derselbe; wenn er aber nicht derselbe ist, so ist er auch nicht mehr und verändert sich aus eben diesem, indem er ein anderer wird. Die sinnliche Wahrnehmung verführte uns nur, weil wir das wahre Sein nicht kennen, was bloß scheint, dafür zu halten.» (Plutarch, Über das «EI» zu Delphi, 17 und 18 ).

Plutarch charakterisiert sich des öfteren als einen Eingeweihten. Was er uns hier schildert, ist Bedingung des Mystenlebens. Der Mensch gelangt zu einer Weisheit, durch die der Geist zunächst die Scheinhaftigkeit des sinnlichen Lebens durchschaut. In den Fluß des Werdens wird alles eingetaucht, was die Sinnlichkeit als Sein, als Wirklichkeit anschaut. Und wie das mit allen anderen Dingen der Welt geschieht, so auch mit dem Menschen selbst. Vor seinem Geistesauge zerflattert er selbst; seine Ganzheit löst sich in Teile, in vergängliche Erscheinungen auf. Geburt und Tod verlieren ihre auszeichnende Bedeutung; sie werden zu Augenblicken der Entstehung und des Vergehens wie alles dasjenige, was sonst geschieht. In dem Zusammenhang von Werden und Vergehen kann das Höchste nicht gefunden werden. Es kann nur gesucht werden in dem, was wahrhaft bleibend ist, was zurückschaut auf das Vergangene und vorschaut auf das Zukünftige. Es ist eine höhere Erkenntnisstufe: dieses Rück- und Vorschauende zu finden. Es ist der Geist, der sich in und an dem Sinnlichen offenbart. Er hat nichts zu tun mit dem sinnlichen Werden. Er entsteht nicht und vergeht nicht in derselben Art wie die Sinneserscheinungen. Wer allein in der Sinnenwelt lebt, hat diesen Geist als verborgenen in sich; wer die Scheinhaftigkeit der Sinnenwelt durchschaut, hat ihn als offenbare Wirklichkeit in sich. Wer zu solchem Durchschauen gelangt, hat ein neues Glied an sich entwickelt. Es ist mit ihm etwas vorgegangen wie mit der Pflanze, die erst nur grüne Blätter hatte und dann eine farbige Blüte aus sich treibt. Gewiß: die Kräfte, durch welche die Blume geworden, lagen verborgen schon vor Entstehung der Blüte in der Pflanze, aber sie sind erst mit dieser Entstehung zur Wirklichkeit geworden. Auch in dem nur sinnlichen Menschen liegen verborgen die göttlich-geistigen Kräfte; aber erst in dem Mysten sind sie offenbare Wirklichkeit. Darin liegt die Verwandlung, die mit dem Mysten vorgegangen ist. Er hat zur vorher vorhandenen Welt, durch seine Entwicklung, etwas Neues hinzugefügt. Die sinnliche Welt hat aus ihm einen sinnlichen Menschen gemacht und ihn dann sich selbst überlassen. Die Natur hat damit ihre Sendung erfüllt. Was sie selbst mit den im Menschen wirksamen Kräften vermag, ist erschöpft. Aber noch nicht sind diese Kräfte selbst erschöpft. Sie liegen wie verzaubert in dem rein natürlichen Menschen und harren ihrer Erlösung. Sie können sich nicht selbst erlösen; sie verschwinden in Nichts, wenn der Mensch sie nun nicht ergreift und weiter entwickelt; wenn er nicht das, was in ihm verborgen ruht, zum wirklichen Dasein erweckt. — Die Natur entwickelt sich vom Unvollkommensten zum Vollkommenen. Vom Leblosen führt sie durch eine weite Stufenreihe die Wesen durch alle Formen des Lebendigen bis zum sinnlichen Menschen. Dieser schließt in seiner Sinnlichkeit die Augen auf und wird sich als sinnlich-wirkliches, als veränderliches Wesen gewahr. Aber er verspürt auch noch die Kräfte in sich, aus denen diese Sinnlichkeit geboren ist. Diese Kräfte sind nicht das Veränderliche, denn aus ihnen ist ja das Veränderliche entsprungen. Der Mensch trägt sie in sich als Zeichen, daß mehr in ihm lebt, als was er sinnlich wahrnimmt. Was durch sie werden kann, ist noch nicht. Der Mensch fühlt, daß in ihm etwas aufleuchtet, was alles geschaffen, mit Einschluß seiner selbst; und er fühlt, daß dieses Etwas das sein wird, was ihn zu höherem Schaffen beflügeln wird. Es ist in ihm, es war vor seiner sinnlichen Erscheinung und wird nach dieser sein. Er ist durch es geworden, aber er darf es ergreifen und selbst an seinem Schaffen teilnehmen. Solche Gefühle leben in dem alten Mysten nach der Einweihung. Er fühlte das Ewige, das Göttliche. Sein Tun soll ein Glied werden in dem Schaffen dieses Göttlichen. Er darf sich sagen: ich habe in mir ein höheres «Ich» entdeckt, aber dieses «Ich» reicht hinaus über die Grenzen meines sinnlichen Werdens; es war vor meiner Geburt, es wird nach meinem Tode sein. Geschaffen hat dieses «Ich» von Ewigkeit; schaffen wird es in Ewigkeit. Meine sinnliche Persönlichkeit ist ein Geschöpf dieses «Ich». Aber es hat mich eingegliedert in sich; es schafft in mir; ich bin sein Teil. Was ich nunmehr schaffe, ist ein Höheres als das Sinnliche. Meine Persönlichkeit ist nur ein Mittel für diese schaffende Kraft, für dieses Göttliche in mir. So hat der Myste seine Vergottung erfahren.

Ihren wahren Geist nannten die Mysten die Kraft, die also in ihnen aufleuchtete. Sie waren die Ergebnisse dieses Geistes. Wie wenn ein neues Wesen in sie eingezogen und von ihren Organen Besitz ergriffen hätte, so kam ihnen ihr Zustand vor. Es war ein Wesen, das zwischen ihnen, als sinnlichen Persönlichkeiten, und zwischen der allwaltenden Weltenkraft, der Gottheit, stand. Diesen seinen wahren Geist suchte der Myste. Ich bin Mensch geworden in der großen Natur: so sprach er zu sich. Aber die Natur hat ihr Geschäft nicht vollendet. Diese Vollendung muß ich selbst übernehmen. Aber ich kann es nicht in dem groben Reiche der Natur, zu der auch meine sinnliche Persönlichkeit gehört. Was in diesem Reiche sich entwickeln kann, ist entwickelt. Deshalb muß ich heraus aus diesem Reiche. Ich muß im Reiche der Geister weiter bauen, da, wo die Natur stehen geblieben ist. Ich muß mir eine Lebensluft schaffen, die in der äußeren Natur nicht zu finden ist. Diese Lebensluft wurde für die Mysten in den Mysterientempeln bereitet. Dort wurden die in ihnen schlummernden Kräfte erweckt; dort wurden sie in höhere, schaffende, in Geistnaturen umgewandelt. Ein zarter Prozeß war diese Verwandlung. Er konnte die rauhe Tagesluft nicht vertragen. Hatte er aber seine Aufgabe erfüllt, dann war der Mensch durch ihn ein Fels geworden, der im Ewigen gegründet war und der allen Stürmen trotzen konnte. Nur durfte er nicht glauben, daß er anderen in unmittelbarer Form mitteilen könne, was er erlebt.

Plutarch teilt mit, daß in den Mysterien «die größten Aufschlüsse und Deutungen über die wahre Natur der Dämonen zu finden seien». Und von Cicero erfahren wir, daß in den Mysterien, «wenn sie erklärt und auf ihren Sinn zurückgeführt werden, mehr die Natur der Dinge als die der Götter erkannt werde» (Plutarch, Über den Verfall der Orakel; und Cicero, Über die Natur der Götter). Aus solchen Mitteilungen ersieht man klar, daß es für Mysten höhere Aufschlüsse gab über die Natur der Dinge, als jene waren, welche die Volksreligion zu geben vermochte. Ja, man sieht daraus, daß die Dämonen, also die geistigen Wesenheiten, und die Götter selbst einer Erklärung bedurften. Man ging also zu Wesenheiten zurück, die höherer Art als Dämonen und Götter sind. Und solches lag im Wesen der Mysterienweisheit. Das Volk stellte Götter und Dämonen in Bildern vor, deren Inhalt ganz der sinnlich-wirklichen Welt entnommen war. Mußte nicht derjenige, der die Wesenheit des Ewigen durchschaute, an der Ewigkeit solcher Götter irre werden! Wie sollte der Zeus der Volksvorstellung ein ewiger sein, da er die Eigenschaften eines vergänglichen Wesens an sich trug? — Eines war den Mysten klar: zu seiner Vorstellung von den Göttern kommt der Mensch auf andere Art als zu der Vorstellung anderer Dinge. Ein Ding der Außenwelt zwingt mich, mir eine ganz bestimmte Vorstellung von ihm zu machen. Dieser Art gegenüber hat die Bildung der Göttervorstellungen etwas Freies, ja Willkürliches. Der Zwang der Außenwelt fehlt. Das Nachdenken lehrt uns, daß wir mit den Göttern etwas vorstellen, für das es keine äußere Kontrolle gibt. Das versetzt den Menschen in eine logische Unsicherheit. Er fängt an, sich selbst als den Schöpfer seiner Götter zu fühlen. Ja, er frägt sich: wie komme ich dazu, in meiner Vorstellungswelt über die physische Wirklichkeit hinauszugehen? Solchen Gedanken mußte der Myste sich hingeben. Da lagen für ihn berechtigte Zweifel. Man sehe sich, so mochte er denken, nur alle Göttervorstellungen an. Gleichen sie nicht den Geschöpfen, die man in der Sinneswelt antrifft? Hat sich sie der Mensch nicht geschaffen, indem er diese oder jene Eigenschaften von dem Wesen der Sinneswelt weggedacht oder hinzugedacht hat? Der Unkultivierte, der die Jagd liebt, schafft sich einen Himmel, in dem die herrlichsten Götterjagden abgehalten werden. Und der Grieche versetzt in seinen Olymp Götter-persönlichkeiten, zu denen die Vorbilder in der wohlbekannten griechischen Wirklichkeit waren.

Mit rauher Logik hat der Philosoph Xenophanes (575 bis 480) auf diese Tatsache hingewiesen. Wir wissen, daß die älteren griechischen Philosophen durchaus von der Mysterienweisheit abhängig waren. Von Heraklit ausgehend, soll das noch im besonderen bewiesen werden. Deshalb darf, was Xenophanes sagt, ohne weiteres als Mystenüberzeugung genommen werden. Es heißt:

Menschen, die denken die Götter nach ihrem Bilde geschaffen,
Ihre Sinne sollen sie haben und Stimme und Körper.
Aber wenn Hände besäßen die Rinder oder die Löwen,
Um mit den Händen zu malen und Arbeit zu tun wie die Menschen
Würden der Götter Gestalten sie malen und bilden die Leiber
So, wie sie selber an Körper beschaffen wären ein jeder,
Pferde den Pferden und Rinder den Rindern gleichende Götter.

Zum Zweifler an allem Göttlichen kann der Mensch werden durch solche Einsicht. Er kann die Götterdichtungen von sich weisen und nur als Wirklichkeit anerkennen, wozu ihn seine sinnlichen Wahrnehmungen zwingen. Aber zu einem solchen Zweifler wurde der Myste nicht. Er sah ein, daß dieser Zweifler einer Pflanze gleicht, die sich sagte: meine farbige Blume ist null und eitel; denn abgeschlossen bin ich mit meinen grünen Blättern; was ich zu ihnen hinzufüge, vermehrt sie nur um einen trügerischen Schein. Aber ebensowenig konnte der Myste bei also geschaffenen Göttern, bei den Volksgöttern, stehen bleiben. Könnte die Pflanze denken, so würde sie einsehen, daß die Kräfte, welche die grünen Blätter geschaffen haben, auch bestimmt sind, die farbige Blume zu schaffen. Aber sie würde nicht ruhen, diese Kräfte selbst zu erforschen, um sie zu schauen. Und so hielt es der Myste mit den Volksgöttern. Er leugnete sie nicht, er erklärte sie nicht für eitel; aber er wußte, daß vom Menschen sie geschaffen sind. Dieselben Naturkräfte, dasselbe göttliche Element, die in der Natur schaffen, schaffen auch im Mysten. Und in ihm erzeugen sie Göttervorstellungen. Er will diese götterschaffende Kraft schauen. Sie gleicht nicht den Volksgöttern; sie ist ein Höheres. Auch darauf deutet Xenophanes:

Ein Gott ist unter Göttern der größte und unter den Menschen,
Weder in Körper den Sterblichen ähnlich noch gar an Gedanken.

Dieser Gott war auch der Gott der Mysterien. Einen «verborgenen Gott» konnte man ihn nennen. Denn nirgends — so stellte man sich vor — ist er für den bloß sinnlichen Menschen zu finden. Wende deine Blicke hinaus auf die Dinge; du findest kein Göttliches. Strenge deinen Verstand an; du magst einsehen, nach welchen Gesetzen die Dinge entstehen und vergehen; aber auch dein Verstand weist dir kein Göttliches. Durchtränke deine Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen schaffen, die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir, denn er weist dir nach, daß du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff aus der Sinnenwelt entlehnt hast. Sofern du als verständiger Mensch die Dinge um dich herum betrachtest, mußt du Gottesleugner sein. Denn Gott ist nicht für deine Sinne und für deinen Verstand, der dir die sinnlichen Wahrnehmungen erklärt. Gott ist eben in der Welt verzaubert. Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden. Diese Kraft mußt du in dir erwecken. Das sind die Lehren, die ein alter Einzuweihender empfing. Und nun begann für ihn das große Weltendrama, in das er lebendig verschlungen wurde. In nichts Geringerem bestand dieses Drama als in der Erlösung des verzauberten Gottes. Wo ist Gott? Das war die Frage, die dem Mysten sich vor die Seele stellte. Gott ist nicht, aber die Natur ist. In der Natur muß er gefunden werden. In ihr hat er sein Zaubergrab gefunden. In einem höheren Sinne faßt der Myste die Worte: Gott ist die Liebe. Denn Gott hat diese Liebe bis zum äußersten gebracht. Er hat sich selbst in unendlicher Liebe hingegeben; er hat sich ausgegossen; er hat sich in die Mannigfaltigkeit der Naturdinge zerstückelt; sie leben, und er lebt nicht in ihnen. Er ruht in ihnen. Er lebt im Menschen. Und der Mensch kann das Leben des Gottes in sich erfahren. Soll er ihn zur Erkenntnis kommen lassen, muß er diese Erkenntnis schaffend erlösen. — Der Mensch blickt nun in sich. Als verborgene Schöpferkraft, noch Dasein-los, wirkt das Göttliche in seiner Seele. In dieser Seele ist eine Stätte, in der das verzauberte Göttliche wieder aufleben kann. Die Seele ist die Mutter, die das Göttliche aus der Natur empfangen kann. Lasse die Seele von der Natur sich befruchten, so wird sie ein Göttliches gebären. Aus der Ehe der Seele mit der Natur wird es geboren. Das ist nun kein «verborgenes» Göttliches mehr, das ist ein offenbares. Es hat Leben, wahrnehmbares Leben, das unter den Menschen wandelt. Es ist der entzauberte Geist im Menschen, der Sproß des verzauberten Göttlichen. Der große Gott, der war, ist und sein wird, der ist er wohl nicht; aber er kann doch in gewissem Sinne als dessen Offenbarung genommen werden. Der Vater bleibt ruhig im Verborgenen; dem Menschen ist der Sohn aus der eigenen Seele geboren. Die mystische Erkenntnis ist damit ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse. Sie ist eine Geburt eines Gottessprossen. Sie ist ein Vorgang, so wirklich wie ein anderer Naturvorgang, nur auf einer höheren Stufe. Das ist das große Geheimnis des Mysten, daß er selbst seinen Gottessprossen schaffend erlöst, daß er sich zuvor aber vorbereitet, um diesen von ihm geschaffenen Gottessprossen auch anzuerkennen. Dem Nicht-Mysten fehlt die Empfindung von dem Vater dieses Sprossen. Denn dieser Vater ruht in Verzauberung. Jungfräulich geboren erscheint der Sproß. Die Seele scheint unbefruchtet ihn geboren zu haben. Alle ihre anderen Geburten sind von der Sinnenwelt empfangen. Man sieht und tastet hier den Vater. Er hat sinnliches Leben. Der Gottes-Sproß allein ist von dem ewigen, verborgenen Vater-Gott selbst empfangen.