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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Das Christentum als Mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums
GA 8

Die Evangelien

Was über das «Leben Jesu» einer geschichtlichen Betrachtung unterzogen werden soll, ist in den Evangelien enthalten. Alles, was darüber nicht aus dieser Quelle stammt, läßt sich nach dem Urteile eines derjenigen, die als die größten geschichtlichen Kenner der Sache gelten, Harnack, «bequem auf eine Quartseite schreiben». Aber was für Urkunden sind diese Evangelien? Das vierte, das «Johannes-Evangelium», weicht von den anderen so sehr ab, daß diejenigen, welche auf diesem Gebiete den Weg geschichtlicher Untersuchung glauben wandeln zu müssen, zu dem Urteile kommen: «Wenn Johannes die echte Überlieferung über das Leben Jesu hat, dann ist die der drei ersten Evangelien (der Synoptiker) unhaltbar; haben die Synoptiker recht, dann ist der vierte Evangelist als Quelle abzulehnen» (Otto Schmiedel, Die Hauptprobleme der Leben Jesu-Forschung Seite 15). Das ist eine vom Standpunkte des Geschichtsforschers ausgesprochene Behauptung. Hier, wo es sich um den mystischen Gehalt der Evangelien handelt, ist dieser Gesichtspunkt weder anzuerkennen noch abzulehnen. Wohl aber muß hingedeutet werden auf solches Urteil: «Gemessen mit dem Maßstabe der Übereinstimmung, Inspiration und Vollständigkeit, lassen diese Schriften sehr viel zu wünschen übrig, und auch nach menschlichem Maßstab gemessen, leiden sie an nicht wenigen Unvollkommenheiten.« So urteilt ein christlicher Theologe (Harnack in «Wesen des Christentums»). Wer auf dem Standpunkte eines mystischen Ursprungs der Evangelien steht, für den erklären sich ohne Zwang die nicht übereinstimmenden Dinge; für den gibt es auch eine Harmonie zwischen dem vierten Evangelium und den drei ersten. Denn alle diese Schriften können gar nicht bloße geschichtliche Überlieferungen im gewöhnlichen Wortsinne sein wollen. Sie wollten ja (vergleiche Seite 101 f) keine geschichtliche Biographie geben. Was sie geben wollten, lag immer schon als typisches Leben des Gottessohnes in den Mysterientraditionen vorgebildet. Man schöpfte nicht aus der Geschichte, sondern aus den Mysterientraditionen. Nun waren natürlich in den verschiedenen Mysterienkultstätten diese Traditionen nicht bis zu wörtlicher Übereinstimmung gleichgestaltet. Immerhin gab es eine so große Übereinstimmung, daß die Buddhisten das Leben ihres Gottmenschen schon fast genau ebenso erzählten wie die Evangelisten des Christentums das des ihrigen. Aber Verschiedenheiten gab es natürlich doch. Man braucht nun nur anzunehmen, daß die vier Evangelisten aus vier verschiedenen Mysterientraditionen schöpften. Es spricht für die hochragende Persönlichkeit Jesu, daß er in vier, verschiedenen Traditionen angehörigen Schriftgelehrten den Glauben erweckt: er sei derjenige, der ihrem Typus eines Eingeweihten in so vollkommenem Grade entspricht, daß sie sich zu ihm wie zu einer Persönlichkeit verhalten können, die den typischen Lebenslauf lebt, der in ihren Mysterien vorgezeichnet ist. Dann haben sie im übrigen sein Leben nach Maßgabe ihrer Mysterientraditionen beschrieben. Und wenn die drei ersten Evangelisten (die Synoptiker) ähnlich erzählen, so beweist das nicht mehr, als daß sie aus ähnlichen Mysterientraditionen geschöpft haben. Der vierte Evangelist hat seine Schrift durchtränkt mit Ideen, die an den Religionsphilosophen Philo erinnern. Das beweist wieder nichts anderes, als daß er aus derselben mystischen Tradition hervorgegangen ist, der auch Philo nahegestanden hat. — Man hat es in den Evangelien mit verschiedenen Bestandteilen zu tun. Erstens mit Tatsachenmitteilungen, die so auftreten, daß sie zunächst den Anspruch zu erheben scheinen, als ob sie historische Tatsachen sein sollten. Zweitens mit Gleichnisreden, die sich der Tatsachenerzählung nur bedienen, um eine tiefere Wahrheit zu versinnbildlichen. Und drittens mit Lehren, die als Gehalt der christlichen Weltansicht gemeint sein sollen. Im Johannes-Evangelium steht kein eigentliches Gleichnis. Es schöpfte eben aus einer mystischen Schule, in der man der Gleichnisse nicht zu bedürfen glaubte. — Wie aber sich geschichtlich gebende Taten und Gleichnisse in den ersten Evangelien verhalten, darauf wirft ein helles Licht die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaumes. Bei Markus 11, 11 ff lesen wir: «Und der Herr ging ein zu Jerusalem in den Tempel, und er besah alles; und am Abend ging er hinaus gen Bethanien mit den Zwölfen. Und des andern Tages, da sie von Bethanien gingen, hungerte ihn. Und sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da trat er hinzu, ob er etwas drauf fände. Und da er hinzu kam, fand er nichts denn nur Blätter; denn es war noch nicht Zeit, daß Feigen sein sollten. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Nun esse von dir niemand keine Frucht ewiglich.» Lukas erzählt an derselben Stelle ein Gleichnis (13,6 f.): «Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge; und kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin drei Jahre lang alle Jahre gekommen und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum und finde keine. Haue ihn ab. Was hindert er das Land.» Es ist das ein Gleichnis, das die Wertlosigkeit der alten Lehre symbolisieren soll, die in dem unfruchtbaren Feigenbaume dargestellt wird. Was bildlich gemeint ist, erzählt Markus wie eine Tatsache, die sich geschichtlich zu geben scheint. Man darf annehmen, daß Tatsachen in den Evangelien deshalb überhaupt nicht als geschichtlich genommen werden wollen, so als ob sie nur als Tatsachen der Sinneswelt zu gelten hätten, sondern als mystisch; als Erlebnisse, zu deren Wahrnehmung die geistige Anschauung notwendig ist, und die aus verschiedenen mystischen Traditionen stammen. Dann aber hört auf ein Unterschied zu sein zwischen dem Johannes-Evangelium und den Synoptikern. Für die mystische Auslegung kommt eben die geschichtliche Untersuchung gar nicht in Betracht. Mag das eine oder das andere Evangelium ein paar Jahrzehnte früher oder später entstanden sein: für den Mystiker sind alle von gleichem historischen Wert; das Johannes-Evangelium genau so wie die anderen.

Und die «Wunder»: sie bieten der mystischen Erklärung nicht die geringsten Schwierigkeiten. Sie sollen die physische Gesetzmäßigkeit der Welt durchbrechen. Das tun sie nur so lange, als man sie für Vorgänge hält, die sich im Physischen, im Vergänglichen so zugetragen haben sollen, daß sie die gewöhnliche Sinneswahrnehmung hätte ohne weiteres durchschauen können. Sind sie aber Erlebnisse, die nur auf einer höheren, auf der geistigen Daseinsstufe durchschaut werden können, dann ist es von ihnen selbstverständlich, daß sie nicht aus den Gesetzen der physischen Naturordnung begriffen werden können.

Man muß also die Evangelien erst richtig lesen, dann wird man wissen, inwiefern sie von dem Stifter des Christentums erzählen wollen. Sie wollen im Stile von Mysterienmitteilungen erzählen. Sie erzählen, wie ein Myste von einem Eingeweihten erzählt. Nur überliefern sie die Einweihung als eine einzigartige Eigentümlichkeit eines Einzigen. Und sie machen das Heil der Menschheit davon abhängig, daß sich die Menschen an diesen eigenartig Eingeweihten halten. Was zu den Eingeweihten gekommen war, das war das «Reich Gottes». Der Einzigartige hat dieses Reich allen denen gebracht, die zu ihm halten wollen. Aus einer persönlichen Angelegenheit des Einzelnen ist eine Gemeindeangelegenheit derjenigen geworden, die Jesus als ihren Herren anerkennen wollen.

Man kann begreifen, daß das so geworden ist, wenn man annimmt, daß die Mysterienweisheit in die israelitische Volksreligion eingebettet worden ist. Aus dem Judentum ist das Christentum hervorgegangen. Daß wir mit demselben dem Judentum Mysterienanschauungen, die als ein gemeinsames Gut des griechischen, des ägyptischen Geisteslebens sich gezeigt haben, gleichsam aufgepfropft finden: darüber brauchen wir nicht erstaunt zu sein. Wenn man die Volksreligionen untersucht, findet man verschiedene Vorstellungen über das Geistige. Geht man überall auf die tiefere Priesterweisheit zurück, die als der geistige Kern der verschiedenen Volksreligionen sich ergibt, so findet man überall Übereinstimmung. Plato weiß sich in Übereinstimmung mit den ägyptischen Priesterweisen, indem er in seiner philosophischen Weltanschauung den Kern der griechischen Weisheit darlegen will. Von Pythagoras wird erzählt, daß er Reisen nach Ägypten, nach Indien gemacht habe; und daß er bei den Weisen dieser Länder in die Schule gegangen sei. Zwischen den philosophischen Lehren des Plato und dem tieferen Sinn der mosaischen Schriften fanden Persönlichkeiten, die ungefähr um die Zeit der Entstehung des Christentums lebten, so viel Übereinstimmung, daß sie Plato einen attisch redenden Moses nannten.

Mysterienweisheit war also überall vorhanden. Aus dem Judentum heraus nahm sie eine Form an, die sie annehmen mußte, wenn sie Weltreligion werden wollte. — Das Judentum erwartete den Messias. Kein Wunder, daß die Persönlichkeit eines einzigartigen Initiierten von den Juden nur so aufgefaßt werden konnte, daß dieser Einzige der Messias sein müsse. Ja, von hier aus fällt sogar ein besonderes Licht auf die Tatsache, daß Volksangelegenheit wurde, was vorher in den Mysterien nur Einzelangelegenheit war. Die jüdische Religion war von jeher Volksreligion. Das Volk sah sich als Ganzes an. Sein Jao war der Gott des ganzen Volkes. Sollte der Sohn geboren werden, so konnte er nur wieder der Volksheiland werden. Nicht der einzelne Myste durfte für sich erlöst werden; dem ganzen Volke mußte diese Erlösung zuteil werden. Innerhalb der Grundgedanken der jüdischen Religion ist es also begründet, daß einer für alle stirbt. — Und daß es auch innerhalb des Judentums Mysterien gab, die aus dem Dunkel des geheimen Kultus in die Volksreligion getragen werden konnten, das ist gewiß. Eine ausgebildete Mystik bestand neben der an den äußeren Formeln des Pharisäertums hängenden Priesterweisheit. Wie anderswo wird diese geheimnisvolle Mysterienweisheit auch hier beschrieben. Als einst ein Eingeweihter solche Weisheit vortrug und seine Hörer den geheimen Sinn ahnten, da sprachen sie: «0 Greis, was hast du getan? O daß du geschwiegen hättest! Du glaubst auf dem unermeßlichen Meere ohne Segel und Mast fahren zu können.

Was unternimmst du? Willst du in die Höhe steigen? Das vermagst du nicht. Willst du dich in die Tiefe versenken? Da gähnt dir ein unermeßlicher Abgrund entgegen.» Und von vier Rabbinen erzählen die Kabbalisten, denen auch das obige entstammt. Vier Rabbinen haben die geheimen Pfade zum Göttlichen gesucht. Der erste starb; der zweite verlor den Verstand; der dritte richtete ungeheure Verwüstungen an; und nur der vierte, der Rabbi Akiba, ging in Frieden hinein und wieder heraus.

Man sieht, daß es auch im Judentum den Boden gab, auf dem sich ein einzigartiger Initiierter entwickeln konnte. Ein solcher brauchte sich nur zu sagen: ich will nicht, daß das Heil die Sache weniger Auserwählter bleibe. Ich will alles Volk an diesem Heil teilnehmen lassen. Er mußte hinaustragen in alle Welt, was die Auserlesenen in den Tempeln der Mysterien erlebt hatten. Er mußte es auf sich nehmen wollen, durch seine Persönlichkeit im Geiste das seiner Gemeinde zu sein, was der Mysterienkult früher denen war, die an ihm teilgenommen hatten. Gewiß: die Erlebnisse der Mysterien konnte er dieser seiner Gemeinde nicht ohne weiteres geben. Das konnte er auch nicht wollen. Aber die Gewißheit wollte er allen geben von dem, was in den Mysterien als Wahrheit angeschaut wurde. Das Leben, das in den Mysterien strömte, wollte er durch die fernere geschichtliche Entwicklung der Menschheit strömen lassen. So wollte er sie auf eine höhere Stufe des Daseins heben. «Selig sind, die da glauben und nicht schauen.» Die Gewißheit, daß es ein Göttliches gibt, wollte er in der Form des Vertrauens unerschütterlich in die Herzen pflanzen. Wer außen steht und dieses Vertrauen hat, der kommt gewiß weiter, als wer ohne dieses Vertrauen dasteht. Wie ein Alp mußte es auf Jesu Gemüt gelastet haben, daß unter den Außenstehenden doch viele sein können, die den Weg nicht finden. Die Kluft zwischen Einzuweihenden und «Volk» sollte weniger groß sein. Das Christentum sollte ein Mittel sein, durch das jeder den Weg finden konnte. Ist er nicht reif dazu, so ist ihm wenigstens nicht die Möglichkeit abgeschnitten, daß er in einer gewissen Unbewußtheit der Mysterienströmung teilhaftig werde. «Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.» Etwas genießen können von den Früchten der Mysterien sollten auch fortan diejenigen, welche nicht an der Einweihung noch teilnehmen können. Nicht von den «äußerlichen Gebärden» sollte fortan das Reich Gottes ganz und gar abhängig sein, nein, «es ist nicht hier oder dort; es ist inwendig in euch». Ihm handelte es sich weniger darum, wie weit dieser oder jener im Reiche des Geistes kommt; ihm kam es darauf an, daß alle die Überzeugung haben: es gebe ein solches geistiges Reich. «Freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind.» Das heißt, habet Vertrauen zum Göttlichen: es wird die Zeit kommen, da ihr es findet.