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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Das Christentum als Mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums
GA 8

Jesus und Sein Geschichtlicher Hintergrund

[ 1 ] In der Mysterienweisheit ist der Boden zu suchen, aus dem der Geist des Christentums hervorgewachsen ist. Es bedurfte nur des Überhandnehmens der Grundüberzeugung, daß dieser Geist in höherem Maße ins Leben eingeführt werden müsse, als dies durch das Mysterienwesen selbst geschehen war. Aber auch eine solche Grundüberzeugung fand sich in weiten Kreisen vor. Man braucht bloß auf die Lebenshaltung der Essäer und Therapeuten zu sehen, die vor der Entstehung des Christentums lange vorhanden waren. Die Essäer waren eine in sich abgeschlossene palästinensische Sekte, deren Zahl zur Zeit Christi auf viertausend geschätzt wird. Sie bildeten eine Gemeinde, die es als Anforderung an ihre Mitglieder stellte, ein Leben zu führen, das innerhalb der Seele ein höheres Selbst entwickelt und damit eine Wiedergeburt bewirkt. Der Aufzunehmende wurde einer strengen Prüfung unterworfen, ob er auch reif sei, sich für ein höheres Leben vorzubereiten. Wer aufgenommen war, mußte eine Probezeit durchmachen. Ein feierliches Gelübde mußte abgelegt werden, an die Fremden die Geheimnisse der Lebensführung nicht zu verraten. Das Leben selbst war geeignet, die niedere Natur im Menschen zu erdrücken, damit der in ihm schlummernde Geist immer mehr geweckt werde. Wer den Geist bis zu einer bestimmten Stufe in sich erlebt hatte, der stieg zu einem höheren Ordensgrad auf; und er genoß eine dementsprechende, nicht äußerlich auferzwungene, sondern in den Grundüberzeugungen naturgemäß bedingte Autorität. Verwandt mit den Essäern waren die in Ägypten wohnenden Therapeuten. Über ihre Lebensführung erlangt man allen wünschenswerten Aufschluß durch eine Schrift des Philosophen Philo «Über das beschauliche Leben». (Der Streit darüber, ob diese Schrift echt oder unecht sei, muß heute als geschlichtet betrachtet und die Annahme als berechtigt angesehen werden, daß Philo wirklich das Leben einer lange vor dem Christentum bestehenden, ihm wohl bekannten Gemeinschaft beschrieben hat. Vergleiche darüber G. R. Mead, Fragmente eines verschollenen Glaubens, Leipzig 1902.) Man braucht sich nur einzelne Stellen aus dieser Schrift vorzuhalten, um zu sehen, auf was es ankam. «Die Wohnungen der Gemeindemitglieder sind äußerst einfach, sie gewähren nur den notwendigen Schutz gegen äußerste Sonnenhitze und äußerste Kälte. Die Wohnungen liegen nicht dicht beieinander wie in den Städten, denn Nachbarschaft ist weniger anziehend für jemand, der die Einsamkeit sucht; noch sind sie weit voneinander entfernt, um die geselligen Beziehungen, die ihnen so lieb sind, nicht zu erschweren und um sich bei einem Räuberanfall leicht Hilfe gewähren zu können. In jeder Behausung ist ein geheiligter Raum, Tempel oder Monasterium genannt, ein kleines Zimmer, oder Kammer, oder Zelle, in welchen sie den Geheimnissen des höheren Lebens nachgehen ... Sie besitzen auch Werke alter Schriftsteller, die einst ihre Schule leiteten und viele Erklärungen über die in den allegorischen Schriften übliche Methode hinterließen ... Die Auslegung der heiligen Schriften ist bei ihnen auf den tieferen Sinn der allegorischen Erzählungen gerichtet.» — Man sieht: es handelte sich um eine Verallgemeinerung dessen, was im engeren Kreise der Mysterien auch angestrebt worden ist. Nur wird natürlich durch eine solche Verallgemeinerung der strenge Charakter abgeschwächt worden sein. — Die Essäer- und Therapeutengemeinden bilden einen natürlichen Übergang von den Mysterien zu dem Christentum. Das Christentum wollte aber zu einer Menschheitsangelegenheit machen, was sie zu einer Sektenangelegenheit gemacht hatten. Dadurch war natürlich die Grundlage für eine weitere Abschwächung des strengen Charakters gegeben.

[ 2 ] Aus dem Vorhandensein solcher Sekten wird verständlich, inwiefern die damalige Zeit reif war für eine Erfassung des Christus-Geheimnisses. In den Mysterien war der Mensch künstlich vorbereitet worden, damit auf entsprechender Stufe in seiner Seele die höhere geistige Welt aufging. Innerhalb der Essäer- oder Therapeutengemeinde suchte sich die Seele durch einen entsprechenden Lebenswandel für die Erweckung des «höheren Menschen » reif zu machen. Ein weiterer Schritt ist dann der, daß man sich zu einer Ahnung davon durchringt: eine Menschen-Individualität könne in wiederholten Erdenleben sich zu immer höheren und höheren Stufen der Vollkommenheit entwickelt haben. Wer solches ahnen konnte, vermochte auch eine Empfindung dafür haben, daß in Jesus eine Individualität von hoher Geistigkeit erschienen sei. Je höher die Geistigkeit, desto größer die Möglichkeit, Bedeutsames zu vollbringen. Und so konnte die Jesus-Individualität fähig werden, jene Tat zu vollbringen, welche die Evangelien in dem Vorgang der Johannes-Taufe so geheimnisvoll andeuten, und durch die Art, wie sie darauf hinweisen, doch so klar als etwas Wichtigstes bezeichnen. — Die Persönlichkeit des Jesus wurde fähig, in die eigene Seele aufzunehmen Christus, den Logos, so daß dieser in ihr Fleisch wurde. Seit dieser Aufnahme ist das «Ich» des Jesus von Nazareth der Christus, und die äußere Persönlichkeit ist der Träger des Logos. Dieses Ereignis, daß das «Ich» des Jesus der Christus wird, das ist durch die Johannes-Taufe dargestellt. Während der Mysterien-Epoche war die «Vereinigung mit dem Geiste» für wenige Menschen die Angelegenheit der Einzuweihenden. Bei den Essäern sollte sich eine ganze Gemeinde eines Lebens befleißigen, durch das deren Angehörige zu der «Vereinigung» kommen konnten; durch das Christus-Ereignis sollte vor die ganze Menschheit etwas — eben die Taten des Christus — hingestellt werden, so daß die «Vereinigung» eine Erkenntnis-Angelegenheit der ganzen Menschheit sein konnte.

[ 1 ] The soil from which the spirit of Christianity grew is to be sought in the wisdom of the Mysteries. All that was needed was for the basic conviction to gain the upper hand that this spirit had to be introduced into life to a greater extent than had happened through the mystery system itself. But such a basic conviction also existed in wide circles. One need only look at the attitude to life of the Essaeans and Therapeutae, which existed long before the emergence of Christianity. The Essaeans were a self-contained Palestinian sect, whose number at the time of Christ is estimated at four thousand. They formed a community that required its members to lead a life that developed a higher self within the soul and thus brought about rebirth. Those who were accepted were subjected to a strict test to determine whether they were ready to prepare themselves for a higher life. Those who were accepted had to undergo a probationary period. A solemn vow had to be made not to reveal the secrets of the way of life to strangers. Life itself was suited to crush the lower nature in man so that the spirit slumbering within him would be awakened more and more. Those who had experienced the spirit within themselves to a certain level rose to a higher degree of order; and they enjoyed a corresponding authority that was not externally imposed but naturally conditioned in their basic convictions. Related to the Essaeans were the therapists living in Egypt. All desirable information about their way of life can be obtained from a writing by the philosopher Philo "On the contemplative life". (The dispute as to whether this writing is genuine or spurious must today be regarded as settled and the assumption that Philo really described the life of a community that existed long before Christianity and was well known to him must be regarded as justified. Compare this with G. R. Mead, Fragmente eines verschollenen Glaubens, Leipzig 1902). One need only read individual passages from this work to see what was at stake. "The dwellings of the members of the community are extremely simple; they provide only the necessary protection against the extreme heat of the sun and the extreme cold. The dwellings are not close together as in the cities, for neighborhood is less attractive to one who seeks solitude; nor are they far apart, so as not to impede the sociable relations which are so dear to them, and so that they can easily give each other help in case of a robber attack. In every dwelling there is a sacred room, called a temple or monastery, a small room, or chamber, or cell, in which they pursue the mysteries of the higher life ... They also possess works of ancient writers, who once directed their school and left many explanations of the method used in the allegorical writings ... Their interpretation of the sacred writings is focused on the deeper meaning of the allegorical narratives." - As you can see, this is a generalization of what was also sought in the narrower circle of the Mysteries. Only, of course, the strict character will have been weakened by such a generalization. - The Essaean and Therapeutic communities form a natural transition from the Mysteries to Christianity. Christianity, however, wanted to make into a matter of humanity what they had made into a sectarian matter. This, of course, provided the basis for a further weakening of the strict character.

[ 2 ] The existence of such sects makes it clear to what extent the time was ripe for a grasp of the mystery of Christ. In the Mysteries, man was artificially prepared so that the higher spiritual world would open up in his soul at the appropriate level. Within the Essaean or Therapeutic community, the soul sought to make itself ripe for the awakening of the "higher man" through a corresponding way of life. A further step is then to come to the conclusion that a human individuality could have developed in repeated earthly lives to ever higher and higher levels of perfection. Those who could sense this could also have a feeling that an individuality of high spirituality had appeared in Jesus. The higher the spirituality, the greater the possibility of accomplishing something significant. And so the individuality of Jesus could become capable of accomplishing that deed which the Gospels so mysteriously hint at in the process of John's baptism and yet so clearly describe as something most important by the way they point to it. - The personality of Jesus became capable of receiving Christ, the Logos, into his own soul, so that he became flesh in it. Since this absorption, the "I" of Jesus of Nazareth is the Christ, and the outer personality is the bearer of the Logos. This event, that the "I" of Jesus becomes the Christ, is represented by the baptism of John. During the Mystery Era, "union with the spirit" was a matter for the initiates of a few people. In the case of the Essaeans, a whole community was to cultivate a life through which its members could come to the "union"; through the Christ-event something - precisely the deeds of the Christ - was to be placed before all mankind, so that the "union" could be a matter of knowledge for all mankind.