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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Der Weg in den Wirren der Gegenwart

Es wächst gegenwärtig die Zahl der Menschen, die zugeben, daß eine Gesundung der staatlichen und wirtschaftlichen Zustände nur durch Anregungen von seiten des geistigen Lebens kommen könne Es ist ja auch offenkundig genug, wie wenig das in den alten Bahnen sich fortbewegende «staatsmännische» Denken den Aufgaben gewachsen ist, die sich aus den Wirren der letzten Jahre ergeben. Man hat Versailles, Spa, St. Germain und so weiter erlebt. Der «Völkerbund» spukt wie eine Heils-Idee in zahlreichen Köpfen. Die Völker der zivilisierten Welt sind durch alles dieses zu keiner aussichtsvollen Idee darüber gebracht worden, was sie in ihren eigenen Gebieten anfangen sollen oder wie sie sich zueinander stellen können. Im Osten Europas wirkt der Aberglaube sein Unheil, daß man von einseitig wirtschaftlich organisatorischen Gesichtspunkten aus ein Reich zimmern könne. Die staatsmännische Ohnmacht des Westens, der zerstörende Aberglaube des Ostens, der in einen wirtschaftlichen Militarismus hineinführt: Sie tragen wohl ihr gut Teil dazu bei, daß manche um die Zukunft der Menschheit besorgte Persönlichkeit nach dem geistigen Leben hinblickt, um bei ihm Hilfe zu suchen.

Die Pfleger amerikanischer Weltanschauungen erheben ihre Stimmen. In neutralen Ländern kann man diese Stimmen schon hören. Warum sollten sie demnächst nicht auch nach Europas Mitte dringen? Der Sinn, den man aus diesen Stimmen vernehmen kann, ist etwa dieser: Der «Völkerbund» muß kommen. Denn er wird segensvoll sein. Aber was aus dem Hirn der «Staatsmänner» kommt, wird ihm keine aussichtsvolle Gestalt geben können. Er muß in den Herzen der Menschen, nicht bloß in äußeren Einrichtungen seine Wurzeln haben. Die können ihm nur werden, wenn die sittlichen, die geistigen Empfindungen der Menschen zu einer Verständigung über die zivilisierte Welt hin führen. Also fache man zu einem neuen Leben die gelähmten religiösen Gefühle, die lässig gewordenen geistigen Mächte an. - Man kann nicht leugnen, daß aus solchen Gesinnungen heraus heute manches schöne Wort gesprochen, manche gutgemeinte Rede gehalten wird. Wer aber unbefangen beobachten kann, der muß sehen, daß solchen Worten heute der Zugang zu den Menschenherzen verschlossen ist. Sie haben nicht die Kraft, um aus den Menschengemütern heraus das zu erwecken, was zu der Idee des Völkerbundes kommen müßte, um ihr Leben, Daseinsmacht zu geben. Und will man die Ursache davon erkennen, warum sie diese Kraft nicht haben, so muß man bedenken, in welche Abhängigkeit Weltanschauungsfragen in der neueren Zeit von Staat und Wirtschaft gekommen sind. Die Staaten haben durch das von ihnen völlig okkupierte Unterrichts- und Erziehungswesen das geistige Leben ihrer eigenen Gestaltung so angepaßt, daß dieses in alle ihre Krisen mit hineingezogen ist. Wo soll ein Geistesleben sein, das einer Erneuerung des staatlichen Wesens dient, da doch die Staaten nur dasjenige haben in die Höhe kommen lassen, was ihrer nun in Frage gestellten Form angemessen war?

In Mitteleuropa ruft man aus der Not und dem Elend heraus nach einer Sammlung der Bekenntnisse, nach einer Wiederbelebung und Verständigung im religiösen Leben. Alles dieses ist gut gemeint. Aber auch hier ist in Worten und Reden keine Kraft. Die staatlichen Formen wollen erneuert sein; und was man sammeln, was man wiederbeleben will, war mit dem Wesen des Alten so verbunden, daß es in seinen Niedergang mit hineingezogen wird.

Nicht eine Erneuerung des staatlichen, des wirtschaftlichen Lebens durch die alten Geistesmächte kann ein aussichtsvolles Ziel sein, sondern allein die Erneuerung des Geisteslebens selbst. Man wird den Mut aufbringen müssen, sich zu gestehen, daß neue Quellen des Geisteslebens erschlossen werden müssen.

Die Anschauung von der Dreigliederung des sozialen Organismus schließt diesen Mut in sich ein. Sie möchte ein unbefangenes Urteil darüber erwecken, daß der vorwaltende intellektuelle Wissenschaftsgeist der Gegenwart eine Folge der Verstaatlichung des Unterrichts- und Erziehungswesens und damit des überwiegenden Teiles des öffentlichen geistigen Lebens ist. Dieser Wissenschaftsgeist aber ist es allein, an den die Menschheit der Gegenwart so stark glaubt, daß sie ihm eine Geltung zuschreibt in den Dingen des öffentlichen Lebens. Neben diesem Wissenschaftsgeist haben die alten Lebensansichten keine Macht für dieses Leben. Nur lebensfremde Personen können sich darüber einer Täuschung hingeben. Nur sie können glauben, aus alten Bekenntnissen Kraftreden zu schöpfen, die auf Staat oder Wirtschaft einen bestimmenden Einfluß haben. Man kann durch solche Reden einen gewissen Teil der Seelenverfassung der Menschen in Stimmung versetzen. Aber mit dem Gewinnst, den diese Menschen von solchen Einflüssen erzielen, werden sie im öffentlichen Leben nicht wirken.

Wer sich keiner Illusion hingeben will, der muß sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die neuere Menschheit eine Lebensansicht braucht, die nicht alte Bekenntnisse neben dem neueren Wissenschaftsgeist bewahrt, sondern die aus diesem Geist heraus selbst erwächst. Es ist das Streben der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, eine solche Lebensansicht zu gestalten. Die moderne Wissenschaft pflegt nur das verstandesmäßige Begreifen der Naturerscheinungen. Dieses hat keine Kraft, um auf Gemüt und Wille des Menschen zu wirken. Es ist deshalb für eine soziale Gestaltung des Lebens ungeeignet. Die anthroposophische Geisteswissenschaft schöpft nicht allein aus dem Verstande, sondern aus allen Seelenkräften des Menschen. Sie wirkt deshalb auch auf alle diese Seelenkräfte wieder zurück. Sie kann befruchtende Ideen dem Staats- und Wirtschaftsleben geben.

Die heutigen Staaten haben, was sie ihrem eigenen und dem Wirtschaftsleben geben können, noch aus den alten Bekenntnissen und Weltanschauungen. Es ist da nur so verwässert, daß man es nicht mehr als Erbschaft des Alten erkennt. Deshalb gibt man diese Tatsache nicht zu. Die neuere, rein intellektualistische Wissenschaft kann Großes leisten in der Naturerkenntnis; auf dem Gebiete des Sozialen kann sie nur lebensfremde, sozialistische Theorien oder lebenzerstörende soziale Experimente hervorbringen. Sie ist aber fähig, zur Geistanschauung fortgebildet zu werden. Wird sie dieses, dann kann sie auch Ideen zu lebensfähigen sozialen Gestaltungen erzeugen.

Die bloße Forderung nach geistiger Anregung für das öffentliche Leben genügt heute nicht. Es bedarf des Mutes zu einer geistigen Neugeburt. Die Gegenwart lebt in Krisen der Staaten und des Wirtschaftslebens. Sie sind nicht zu lösen durch die Kräfte des alten Geisteslebens. Sie werden nur gelöst werden, wenn die Krisis des Geisteslebens selbst durchschaut und auf dem eigenen Gebiete des Geistes die Lösung gesucht wird.