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The Rudolf Steiner Archive

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Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Die wirklichen Kräfte in dem sozialen Leben der Gegenwart

Die Gruppe von Menschen, die im Frühling 1919 damit begann, den Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus zu propagieren, wollte in ehrlicher Weise an der Besserung der menschlichen Lebensverhältnisse arbeiten. Sie konnte aus dieser Ehrlichkeit heraus der Arbeiterbevölkerung nicht die alten Schlagworte und Phrasen bringen, welche seit Jahrzehnten in der sozialistischen Agitation ihr Wesen getrieben hatten. Mit diesen Phrasen und Schlagworten konnte man die bisherige gesellschaftliche Ordnung wohl kritisieren, man konnte den führenden Klassen sagen, was sie unterlassen haben, aber man konnte nichts aufbauen. Man konnte damit Utopien ausdenken, aber man konnte der sozialen Wirklichkeit nicht Kräfte zuführen, welche dem Leben so dienen, daß darinnen jeder Mensch ein menschenwürdiges Dasein findet.

Die Träger des Dreigliederungsgedankens gingen nicht von solchen Phrasen und Schlagworten aus. Sie begründeten ihr Wollen auf den festen Lehren, die das Leben selbst gibt. Sie sprachen von dem Standpunkt dieser Lebenslehren aus sowohl zu den Persönlichkeiten der führenden Klassen wie auch zu den Proletariern. Sie sind bisher von keiner Seite verstanden worden. Aber sie wissen gerade deshalb, weil sie ihre Gedanken aus dem wirklichen Leben geholt haben, daß von einer Besserung der Zustände erst die Rede sein kann, wenn man diese Lebenslehren verstehen wird. Sie können nichts anderes tun, als diese Lehren so lange zu wiederholen, bis sie ein geneigtes Ohr finden.

Warum hat man dieTräger des Dreigliederungsgedankens nicht verstanden? Das Proletariat fand, daß sie zu kompliziert sprachen. Es konnte nicht sogleich sehen, wie durch ihre Gedanken sich wirklich nicht bloß ein Ziel, sondern auch ein Weg zeigte aus den geistigen, staatlichen und wirtschaftlichen Unmöglichkeiten heraus. Man wollte, daß sie einfacher sprächen. Aber man bedachte dabei nicht, daß das Leben selbst kompliziert ist. Der Träger des Dreigliederungsgedankens ist in derselben Lage wie ein Arzt. Dieser soll seine Ratschläge geben. Er wird das nur tun können, wenn er den ganzen komplizierten menschlichen Organismus kennt. Kann man von ihm verlangen, daß er zu jedem Menschen von diesem Organismus so spricht, wie es zu verstehen ist, wenn man sich nicht auf das einläßt, was über das Leben des Organismus gelernt werden muß? Man kann das nicht verlangen, weil er durch das Befolgen dieses Verlangens zum Schlagwort und zur Phrase greifen müßte. Das aber konnten diese Träger nicht. Denn sie wollten nur sagen, was in jedem Satze von Ehrlichkeit durchdrungen war. Was sie zu sagen haben, kann verstanden werden. Aber man muß sich erst durchringen zu diesem Verständnis.

Der Proletarier wird sagen: Also wollt ihr allerlei gelehrtes Zeug zu uns sprechen, wir aber wollen die einfache Sprache des Volkes hören. Darauf ist zu erwidern: Nein, gelehrtes Zeug wollen wir nicht sprechen, sondern die Sprache des wirklichen Lebens. Wir wollen nur von Kapital und Arbeit sprechen vom Gesichtspunkte der Sachkenntnis wie der Arzt oder Naturkenner vom menschlichen Organismus und nicht wie der Kurpfuscher. Aber wenn man so sprechen will, dann wird man nur verstanden, wenn auch der andere den rechten Weg des Verstehens beschreiten will. Es wird dieser Weg nur gefunden werden, wenn er durch Herz und Seele zum Verstande gehen will. Der Schreiber dieser Zeilen ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die Träger des Dreigliederungsgedankens so sprechen, daß man ihnen Verständnis für die wahre Lage des Proletariats ansieht, wenn man sie vom Herzen und von der Seele aus beurteilen will. Das Proletariat hat bis jetzt diesen Weg durch Herz und Seele nicht genügend gesucht. Es hat geurteilt nach denVerstandeslehren, die es durch den landläufigen Sozialismus eingesogen hat. Es hat verlangt, daß die Träger des Dreigliederungsgedankens auch so sprechen sollen, wie es bisher nach diesen Verstandeslehren gewohnt war. Das konnten diese nicht, weil sie wissen, daß diese Lehren dem Leben widersprechen und deshalb zu nichts führen.

Der Schreiber dieser Zeilen will nicht einer wüsten Phantastik das Wort reden. Er sagt deshalb nicht, daß der Verstand abgesetzt werden soll und nur durch Herz und Seele ein Weg gesucht werden könne. Gewiß, der Verstand muß der sichere Führer sein, aber in sozialen Dingen gibt es keinen andern Weg zu dem richtigen Verstandesgebrauch als den durch Herz und Seele. Auf einen solchen Weg rechnen meine «Kernpunkte der sozialen Frage» und mein Buch «In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus». Ich glaube nicht, daß in diesen Büchern jemand die Lebensbeurteilung vom Standpunkt des Verstandes aus vermißt, aber ich habe mich im Interesse der Sache doch gefreut, als ich vor kurzem in einer Besprechung des ersten Buches von fremder Seite her las, daß darinnen die soziale Frage ebenso durch die Kräfte des Herzens wie des Verstandes erfaßt sei.

Ebensowenig wie von proletarischer Seite ist der Dreigliederungsgedanke von Persönlichkeiten der bisher führenden Kreise verstanden worden. Diese sind mit ihren Gedanken so eingesponnen in die bisherigen wirtschaftlichen Routinen, daß sie sich von vornherein auf etwas nicht einlassen, das nicht in ihren gewohnten Bahnen läuft. Manche von ihnen sehen ein, daß etwas geschehen müsse; wenn man aber mit bestimmten Gedanken herausrückt über das, was geschehen soll, so schrecken sie davor zurück, weil sie glauben, daß sie die Wirklichkeit haben und daß ihnen diese durch eine Phantastik gestört werden soll. Die meisten sagen, sie haben keine Zeit, um sich mit solchen Ideen zu beschäftigen. Und wer nicht von vornherein ungerecht sein will, der muß sogar zugeben - sie haben wirklich keine Zeit. Sie haben von morgens bis abends zu tun, um im alten Sinne fortzuarbeiten, sie kommen abends aus dem Büro mit ermüdetem Kopf, der nichts mehr aufnehmen will, selbst dann, wenn sie mit gutem Willen sich einmal hinsetzen - um sich das Ding anzusehen. So beschränken sie sich darauf, die Brüche, die im Hergebrachten entstehen, zu leimen. Sie werden so lange nicht Zeit haben, bis sie werden einsehen müssen, daß die Zeit, die sie ausgefüllt haben, doch vergeudet war, und daß die viel besser angewendet gewesen wäre, die sie sich nicht glaubten gönnen zu dürfen. Ich rede dabei von denen, die wenigstens einigen guten Willen haben. Auf die andern - ach, sie sind so zahlreich - kann im Ernste doch nicht gerechnet werden.

Wer den Dreigliederungsgedanken verstehen will, der muß sich die Mühe nehmen, zu verfolgen, wie befruchtende Gedanken für das Rechts- und Wirtschaftsleben nur von einem auf sich selbst gestellten Geistesleben kommen können. Er muß vom Leben sich darüber belehren lassen, wie ein vom Rechts- und Wirtschaftswesen aus verwaltetes Erziehungs- und Unterrichtssystem diejenige Regsamkeit verliert, die zur Aufrechterhaltung des sozialen Organismus notwendig ist. Von da aus wird er dann auch zum Verständnis eines assoziativ gestalteten Wirtschaftslebens und eines wirklich demokratischen Rechtslebens kommen. Der Schreiber dieser Zeilen hat versucht, in den obengenannten Büchern diesen Weg des Verständnisses sachgemäß, so gut er es konnte, zu zeigen.

Will man auf einen solchen Weg weisen, so muß man von den sozialen Kräften ausgehen, die in dem gegenwärtigen Zeitalter wirksam sind. Die moderne Technik hat das Leben umgestaltet; die neuere Wissenschaft ist durch das entwickelte Schulwesen in die Seelen weitester Kreise als Lebensansicht gedrungen. Das hat neue Vorstellungen von einem menschenwürdigen Dasein geschaffen. Mit diesen beiden sehr realen Kräften der Gegenwart rechnen die Träger der Dreigliederung. Man wird deren Ideen dann verstehen, wenn man fühlen wird, was diese Kräfte bedeuten. Viele rechnen zwar mit der Technik, aber nicht mit dem Leben der Menschen, die in diese Technik eingespannt sind. Andere rechnen mit dem Wissenschaftsgeist. Sie wollen ihn - mit Recht - in den Schulen gepflegt haben. Aber sie rechnen nicht mit den Seelenstimmungen, die er erzeugt. Der Dreigliederungsgedanke rechnet mit dem, was sie aus der Rechnung herausfallen lassen.

Der Proletarier hat das Vertrauen verloren, weil er empfindet, wie so viele weder mit seinem Leben, noch mit seiner Seele rechnen. Es wird erst besser werden können, wenn er durch Herz und Seele den Weg findet zu den sozialen Ideen, die mit beiden rechnen, und die ihm eben deshalb seine liebgewordenen Schlagworte nicht weiter bieten können, weil sie einen wirklichen Weg und nicht das Berauschen mit utopistischen Gedanken wollen.