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The Rudolf Steiner Archive

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Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit über die Geschichte des Kriegsausbruches

Innerhalb der ins Unübersehbare angewachsenen Kriegsliteratur darf der vom historischen Seminar der Universität Bern preisgekrönten Schrift Dr. Jacob Ruchtis «Zur Geschichte des Kriegsausbruches nach den amtlichen Akten der königlich großbritannischen Regierung» ein ganz besonderer Wert zuerkannt werden. Denn sie enthält eine Betrachtung, die nach den strengen Regeln geschichtswissenschaftlicher Forschung und derjenigen wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit angestellt ist, die der Historiker sucht, wenn er über Tatsachenzusammenhänge sich ein Urteil bilden will. Was gewöhnlich im Wissenschaftsbetrieb erst lange nach Verlauf der in Frage kommenden Geschehnisse versucht wird, Ruchti unternimmt es für die Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart. Man muß nach Prüfung seiner Arbeit sagen, daß ein günstiges Urteil über ihren Inhalt, eine Würdigung ihrer Ergebnisse durchaus nicht die Folge zu sein braucht des Standpunktes gegenüber den Kriegsursachen, den man nach seiner Volkszugehörigkeit oder ähnlichen Ursachen einnimmt, sondern daß zu einer solchen Würdigung die sachlich befriedigende wissenschaftliche Methode des Verfassers denjenigen führen kann, der für wissenschaftlich zu gewinnende Überführungen überhaupt zugänglich ist.

Nun sind viele Menschen der Ansicht, daß eine Besprechung der Kriegsursachen heute schon eine unfruchtbare Sache geworden ist. Eine solche Ansicht kann aber nicht aufrechterhalten werden gegenüber der Art, in welcher die Staatsmänner und die Presse der Entente der Welt die Meinung beizubringen suchen, daß sie trotz des Friedensangebotes der Mittelmächte gezwungen seien, den Krieg fortzusetzen. Unter den Gründen, die sie angeben, spielt der eine ganz besondere Rolle, daß der Kriegsanfang beweise, wie ein friedliches Zusammenleben mit den Mittelmächten nur durch einen vernichtenden Schlag der Entente gegen diese Mächte zu erreichen sei. Nun wird von Ruchti gezeigt, daß diese Behauptung auf einer unwahren Legende beruht, welche auf Seite der Entente gegen die Aussagen ihrer eigenen Urkunden geschmiedet worden ist, um der Welt die Ansicht beizubringen, die sie für gut befindet, ihr über Ausgang und Ziel des Krieges beizubringen. Gewiß, das von Ruchti als Ergebnis Vorgebrachte ist oft und in der verschiedensten Form schon gesagt worden. Aber das Bedeutsame seiner Schrift liegt erstens in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung des Tatbestandes und zweitens darin, daß ein Angehöriger eines neutralen Staates seine Ergebnisse rückhaltlos mitteilt, und daß ein wissenschaftliches Seminar dieses Staates die Schrift für so den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend findet, daß sie sie preiskrönt. Ruchti bleibt auch im Stil der wissenschaftliche Forscher, der nirgends über das hinausgeht, was die Quellen ergeben, ja, er macht nach Art eines solchen Forschers an den entsprechenden Stellen genau darauf aufmerksam, wo das Tatsachenmaterial unsicher wird und mit dem objektiven Urteil zurückgehalten werden muß. Er stützt sich fast ausschließlich auf englische Urkunden und verwendet die anderen Staaten nur zur Ergänzung dieser oder jener Tatsachendarstellung. Und er kommt durch diese Methode zu einem Ergebnis, das sich in folgende Worte zusammenfassen läßt. Die Behauptungen, durch welche die Staatsmänner der Entente die Welt überreden wollen, werden durch die englischen Urkunden als das Gegenteil der Wahrheit erkannt. Das ganze Gewebe von Behauptungen der Grey und Genossen über die Friedensbemühungen der Entente-Staatsmänner zerfällt vor der wissenschaftlichen Analyse Ruchtis und wird zu einem solchen, das nur den Schein von Friedensbestrebungen zeigt, das aber in Wirklichkeit nicht nur sicher zum Kriege zwischen Rußland und Frankreich einerseits und Deutschland und Österreich andererseits führen mußte, sondern auch England an die Seite der ersteren Mächte zu stellen geeignet war. Aus diesen Darlegungen geht hervor, wie Sasonow den Streitfall zwischen Österreich und Serbien zum Ausgangspunkt eines europäischen Konfliktes macht und wie Grey von vornherein diesen russischen Ausgangspunkt zu dem seinigen macht und von ihm aus seine sogenannten Friedensbemühungen einrichtet. Es ist nicht das geringste Zeugnis dafür vorhanden, daß Grey etwa in den Sinn gekommen sein könnte, seine diplomatischen Schritte so einzurichten, daß Rußland gezwungen gewesen wäre, Österreich seinen Streitfall mit Serbien allein ausfechten zu lassen. Da Österreich die Zusage gegeben hat, daß es mit seinen kriegerischen Maßnahmen gegen Serbien nichts anderes erreichen wolle, als die restlose Anerkennung seines Ultimatums und dieses nichts verlangte, als ein angemessenes Verhalten Serbiens gegenüber dem österreichischen Staate in seinen bisherigen Grenzen, so wäre ein Kriegsgrund für eine andere Macht nicht dagewesen, wenn Grey Rußland von der Einmischung in den österreichischserbischen Streit abgebracht hätte. Dadurch aber war England von vornherein der Bundesgenosse Rußlands und Gegner der Mittelmächte und Grey hatte eine Politik eingeleitet, die mit Notwendigkeit zu dem Kriege führen mußte in der Form, wie er dann zustande gekommen ist. Demgegenüber, was Grey getan hat, die Behauptung vertreten, nur weil Deutschland nicht gewollt habe, sei es ihm nicht gelungen, den Frieden aufrechtzuerhalten, entpuppt sich als eine verwerfliche Unwahrheit gerade deswegen, weil sie durch die Betonung einer ganz selbstverständlichen aber auch ganz bedeutungslosen Wahrheit so geeignet wie nur möglich ist, die Welt irrezuführen. Denn es ist gewiß klar, daß England, ja wohl auch Frankreich und sogar Rußland der Friede lieber gewesen wäre als der Krieg, wenn es ohne diesen auf diplomatischem Wege gegangen wäre, Deutschland und Österreich gegenüber der Entente zur politischen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken und es dazu zu bringen, sich dem Machtwillen der Entente zu fügen. Nicht darauf kommt es an, ob Grey Frieden oder Krieg gewollt habe, sondern darauf, wie er sich zu den Ansprüchen derjenigen Mächte bei Kriegsausbruch gestellt hat, die im Kriege Englands Bundesgenossen sind. Und Ruchti beweist, daß Grey sich so gestellt hat, daß durch sein Verhalten der Krieg notwendig herbeigeführt werden mußte. Man wird hier gewiß zu den Beweisen Ruchtis hinzufügen dürfen, daß Grey selbst nicht zum Kriege drängen wollte, sondern daß er ein Schwächling ist, der zu seinen Schritten von anderen geschoben worden ist. Das aber ändert nichts an der geschichtlichen Beurteilung seiner Taten. Es gelingt Ruchti völlig zu beweisen, daß Greys diplomatische Schritte ihm nicht den geringsten Anspruch darauf geben, zu behaupten, er hätte etwas zur Verhinderung des Krieges getan. Es gelingt dem schweizerischen Geschichtsbetrachter aber auch, zu zeigen, daß die englischen Staatsmänner sich in den Verhandlungen mit Deutschland so verhalten haben, daß ihnen mit dem Neutralitätsbruch gegenüber Belgien ein Kriegsgrund dargeboten worden war, den sie hätten vermeiden können, wenn sie auf gewisse Anerbietungen Deutschlands eingegangen wären. Doch diesen Kriegsgrund brauchten sie, um ihrem Volke, das wegen Serbiens und wegen der europäischen Ansprüche Rußlands nicht zum Kriege wäre zu bringen gewesen, diesen annehmbar zu machen. Und zur Volksüberredung war auch eine Fälschung nötig, die Ruchti im englischen Weißbuch nachweist. Durch falsche Datierungen in einem Briefwechsel, den Grey geführt hat, sollte dem englischen Volke gezeigt werden, wie das friedliebende Frankreich von Deutschland überfallen worden sei. Durch die Fälschung von Daten wurde der Eindruck hervorgerufen, daß Deutschland viel früher Frankreich angegriffen habe, als dies wirklich der Fall gewesen ist. Dazu kommt, daß Asquith in seiner Kriegsrede vom 6. August 1914 mit dem gleichen Erfolge der Volkstäuschung maßgebende Verhandlungen mit Deutschland einfach verschwiegen hat. Durch sachliche Abwägung aller dieser Tatsachen bildet sich Ruchti ein Urteil, das ihn berechtigt, die sogenannte Friedensbemühung der englischen Staatsmänner als eine unwahrhaftige Legende hinzustellen und sogar bei ihnen die zum Kriege treibenden Kräfte aufzuzeigen. Am Schlusse spricht er die schwerwiegenden Worte aus: «Die Geschichte läßt sich auf die Dauer nicht fälschen, die Legende vermag vor der wissenschaftlichen Forschung nicht standzuhalten, das dunkle Gewebe wird ans Licht gebracht und zerrissen, auch wenn es noch so kunstvoll und fein gesponnen war.» Aber vorläufig sucht die Entente in diesem dunklen Gewebe noch eines der Mittel, um ihr dunkles Kriegshandwerk der Welt als eine Notwendigkeit der Zivilisation und der edelsten Menschlichkeit aufzuschwatzen.