Our bookstore now ships internationally. Free domestic shipping $50+ →

The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Gegen Einwände, die über das «Matin»-Interview gemacht werden

Auf die durchaus sachlich gehaltenen Einwände des Herrn Major Muff («Stuttgarter Neues Tagblatt», 1.November 1921) gegen Absicht und Inhalt des «Matin»-Interviews scheint es Pflicht, zu antworten. Vorerst möchte ich aber meine Befriedigung über diese Sachlichkeit zum Ausdrucke bringen; denn wenn man von so vielen Seiten fortdauernd nur persönliche Verunglimpfungen erfährt, ist man froh, es einmal mit vornehmem Ton in der Polemik zu tun zu haben.

Zunächst spricht Major Muff davon, daß ich zu Dr. Sauerweins Interview in nachträglichen Bemerkungen hinzugefügt habe: «Man könne überhaupt gar nicht so von einer Schuld sprechen, wie man es tue. Tragik liege vor. Und durch eine tragische Situation sei der Krieg entstanden.» Wenn man einige Satze in meinen «nachtraglichen Bemerkungen» weiter liest, so wird man auf die folgenden Worte stoßen: «Und ich meine, daß, was er (Moltke) gesagt hat, geeignet ist, die Diskussion über die <Schuld> am Kriege auf eine andere Grundlage zu stellen, als diejenige ist, auf der sie heute in der Welt steht.» Major Muff sagt: «Als Deutsche haben wir allen Grund, uns gegen eine solche Verschiebung der Diskussionsebene zu verwahren.» Das erscheint mir, aufrichtig gesagt, etwas weltfremd. Der ganze Zusammenhang meiner Worte besagt doch, daß die Diskussion «in der Welt», das heißt, unter den heutigen Verhältnissen im wesentlichen bei Deutschlands Gegnern auf eine andere Grundlage gestellt werden solle, als die ist, auf der sie steht. Auf welcher Grundlage steht sie da? Auf keiner andern, als daß Deutschland den Krieg bewußt herbei geführt habe. Daß Lloyd George zuweilen so, zuweilen ein bißchen anders spricht, kann doch wahrhaftig nicht zu dem Glauben verführen, daß «die Wahrheit über die Schuld am Kriege» ... «bereits auf dem Marsche ist». Wenn man ohne Weltfremdheit heute die Diskussion über die Kriegsschuld betrachtet, dann könnte man zufrieden sein, wenn die Diskussion von den vernünftigen Leuten außerhalb Deutschlands auf die Grundlage gestellt würde: es liegt nicht «Schuld» von deutscher Seite vor, wie man bisher gedacht hat, sondern am Ausgangspunkte steht eine tragische Situation in Deutschland. Ich glaube, es liegt wirklich nicht im deutschen Interesse, eine solche Verschiebung der Diskussionsgrundlage abzulehnen. Insbesondere dann nicht, wenn man das Wesentliche dieser tragischen Situation zugibt, wie es doch auch Herr Major Muff tut. Er spricht gegenüber dem Urteil Moltkes bei Ausbruch des Krieges von der «gelinde ausgedrückt, politischen Harmlosigkeit» der leitenden deutschen Politiker. Nun, gegenüber der Größe der Sache, ist es ja vielleicht nicht durchaus nötig, sich «gelinde» auszudrücken. Tut man dies nicht, so wird man auch den Major Muffschen Satz als einen Beweis dafür ansehen müssen, daß die deutschen Politiker 1914 gänzlich versagt haben. Darinnen aber liegt eben die tragische Situation.

Das ist überhaupt das Eigentümliche in der Polemik, die sich an das «Matin»-Interview knüpft: Man sagt, was dieses Interview enthält, sei verfehlt; und man gibt dann an, was man selbst zu sagen hat: und in allem Sachlichen gibt man nur Bestätigungen dessen, was in dem Interview steht.

Major Muff glaubt, daß durch den «Matin»-Artikel der «Normaldenkende» nun doch die «Schuld» Deutschland zuschieben werde, weil gesagt ist, daß im deutschen Mobilmachungsplan der Krieg nicht nur gegen Rußland, sondern auch gegen Frankreich vorgesehen war, und dieser Plan mit einem «unerbittlichen Automatismus abrollen» mußte. Major Muff führt, um diesen Glauben zu stützen, einen Satz des Interviews an, dem er aus Eigenem einen Zwischensatz einfügt: «So kam es, daß aus rein militärischen Rücksichten - gemeint ist der unbiegsame Aufmarschplan des deutschen Generalstabes - die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen mußte.» Dieses Zitat wird falsch, indem Major Muff die Worte hineinsetzt: «gemeint ist der unbiegsame Aufmarschplan des deutschen Generalstabes». Diese Worte stehen nicht im Interview. Was gemeint ist, besagen die Worte, die in dem Interview den angeführten vorangehen. Und diese heißen: «mit dem Mobilisierungsbefehl in der Hand, den Wilhelm II. soeben unterzeichnet hat, wird er (Moltke) entlassen, die andern in einem Zustande völliger Verwirrung zurücklassend.» Nachdem so darauf hingewiesen war, daß die leitenden politischen Persönlichkeiten in «völliger Verwirrung» waren, wird das von Major Muff Angeführte gesagt: «So kam es, daß aus rein militärischen Rücksichten die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen mußte.» Major Muff konstruiert nun eine Entscheidung, die nach klaren Aussprüchen Moltkes, nach dessen Aufzeichnungen (und auch nach den Ausführungen von Haeftens in der «Deutschen Allgemeinen Zeitung») gar nicht anders als militärisch aufgefaßt werden kann, in eine durch Molike bewirkte politische um. Er sagt, Moltke habe die feste Überzeugung gehabt, «daß Rußland angreifen und daß Frankreich und England auf seine Seite treten würden. Damit war für ihn der Fall des Zweifrontenkrieges, und zwar nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen gegeben». Moltke sagte zum Kaiser, als dieser seinen Willen aus politischen Gründen ausdrückte, mit der ganzen Armee nach Osten zu marschieren, daß der Aufmarsch eines Millionenheeres sich nicht improvisieren lasse, daß dieser das Ergebnis einer langen, mühsamen Arbeit sei, und, einmal festgesetzt, nicht geändert werden könne. Wenn der Kaiser das gesamte Heer nach dem Osten führen wolle, so würde er nicht ein schlagfertiges Heer, sondern einen wüsten Haufen ungeordneter bewaffneter Menschen ohne Verpflegung haben. Was kann klarer sein, als daß hier militärische Gründe gegen politische ins Feld geführt werden. Eigentlich sieht sich Major Muff auch genötigt, dieses zuzugeben. Deshalb sagt er, Moltkes Gründe waren politische; aber er gab militärische an. Und er konstruiert seinen Gedankengang so: «Wenn Moltke sich weigerte, auf den Zweifrontenaufmarsch, der auf den Schlieffenschen Operationsstudien aufgebaut war, zu verzichten, so geschah dies ... nicht deshalb, weil man nicht technisch in der Lage gewesen wäre, einen andern Aufmarsch auszuführen, sondern weil er fest überzeugt war, daß Frankreich und England sofort auf Rußlands Seite treten würden... . Mit politischen Gründen kam er, der Soldat, gegen die berufenen Leiter der deutschen Außenpolitik nicht auf. Mit allen Mitteln mußte er einen Entschluß verhindern, der ihn als Leiter der militärischen Operationen vor eine unlösbare und für Deutschland verhängnisvolle Aufgabe stellte. Natürlicherweise griff er zu einem Mittel, von dem allein er sich noch Erfolg versprechen konnte. Er erklärte sich aus technischen Gründen nicht in der Lage, den vom Kaiser und seinen politischen Ratgebern geforderten Aufmarsch allein gegen Rußland durchzuführen. Daß in Wahrheit aber allein politische Gründe für seine Weigerung maßgebend waren, geht aus Moltkes Aufzeichnungen klar hervor.» Das Gegenteil ist der Fall. Wenn etwas aus Moltkes Aufzeichnungen klar hervorgeht, so ist es dies, daß er aus militärisch-technischen Gründen - Major Muff sagt: «als Leiter der militärischen Operationen» - in der Stunde, in welcher die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden mußten, die strikte Durchführung des Zweifrontenkrieges für absolut notwendig hielt. Ich kann mir bei Moltkes Charakter durchaus nicht denken, daß er sich hinter die doch ganz bestimmt ausgesprochenen Gründe einfach verschanzt hätte. Streitet man dann nicht um Worte, verzichtet man darauf, das bestimmt als militärisch-technisch Charakterisierte als politisch zu bezeichnen, so kann man Major Muffs Ausführungen mit denen des Interviews unbefangen vergleichen. Und siehe da: im Interview steht: «Er (Moltke) sah die tragische Entwicklung deutlich voraus, welche die Dinge annehmen mußten, das heißt, er glaubte an die Teilnahme Frankreichs und Englands an dem Weltkonflikt.» Es wird der Entscheidung Moltkes genau das gleiche untergelegt, das ihr auch Major Muff zuschiebt. Und auch dieser hält von den berufenen Leitern der Politik nichts. Damit aber gibt er zu, daß die Entscheidung in von Moltkes Händen lag. Und dieser mußte seine militärische Pflicht tun. - Wie man dann noch glauben kann, das Interview verführe zu der Behauptung, daß der deutsche Generalstab die tragische Situation heraufbeschworen habe, ist unerfindlich. Vom Anfang bis zum Ende will das Interview zeigen, daß die tragische Situation in dem Unvermögen der Politiker lag und daß der deutsche Generalstabschef so handelte, wie er pflichtgemäß handeln mußte. Für Dr. Sauerwein lag kein Grund vor, sich «ins Fäustchen» zu lachen. Der könnte sich nur ergeben, wenn man fortführe, in Deutschland zu sagen, man «verwahre» sich gegen die «Verschiebung der Diskussionsebene» nach der Richtung hin, daß man von einer «deutschen Schuld» in dem Sinne nicht sprechen könne, in dem man bisher in der außerdeutschen Welt davon gesprochen hat.

Will man bei dem geraden, nicht verklausulierten Tatbestand, wie ihn von Moltke schilderte, bleiben, so kommt es nicht darauf an, die Doktorfrage zu diskutieren, ob die Behauptung, in Deutschland wäre der Mobilmachungsbefehl der Kriegserklärung gleichgekommen, militärtechnisch unsinnig sei. Es handelt sich doch nicht um militärtechnische Definitionen, sondern um die Wirklichkeit von Ende Juli und Anfang August 1914. Und von dieser Wirklichkeit sagt Major Muff selbst, daß das militärtechnisch «Unsinnige» politisch insofern richtig war, «als wir in dem Bestreben, den Krieg zu lokalisieren, im Gegensatze zu unsern Gegnern jede militärische Maßnahme bis zum äußersten Termin verschoben und ihnen dadurch einen wertvollen Vorsprung gelassen hatten, so daß dann allerdings Mobilmachungsbefehl und Kriegsbeginn zeitlich zusammenfielen». Man sollte doch denken, für Vorgänge, die sich in der Zeit abspielen, komme dieses zeitliche Zusammenfallen in Betracht, nicht der Umstand, daß Mobilmachungsbefehl und Kriegsbeginn theoretisch verschiedene Definitionen haben. Major Muff sagt: «Planmäßig sollte sich allerdings der Aufmarsch unmittelbar an die Mobilmachung anschließen, um keine Zeit zu verlieren. Aber es hätte nach Art und Weise der Vorbereitungen der einfache Zusatz zum Mobilmachungsbefehl: Aufmarsch wird zunächst nicht ausgeführt, genügt, um lediglich die Mobilmachung zum Abschluß zu bringen.» Sicherlich würde, nach allem, was man aus Moltkes Aussprüchen wissen kann, dieser, nach Erlassung des Mobilmachungsbefehles, diesen Zusatz nicht gemacht haben. Denn er war der Ansicht, daß jede Verzögerung schaden müsse. Also ist auch diese Behauptung zwar theoretisch richtig, praktisch aber ohne alle Bedeutung.

Major Muff legt großen Wert darauf, daß auch ein Plan für einen alleinigen Aufmarsch im Osten vorhanden war. Man muß demgegenüber zwei Fragen stellen. Erstens, warum rechnete von Moltke im Augenblicke der Entscheidung nicht mit diesem Plan? Major Muff wird sagen, weil er die Meinung der Politiker für Unsinn hielt, daß der Westen neutral bleiben werde. Dann konnte er aber doch nicht zum Kaiser sagen: man habe, wenn man im Osten aufmarschierte, kein schlagkräftiges Heer, sondern einen wüsten Haufen bewaffneter, unverpflegter Menschen. Und zweitens: wenn er dieses sagte - und er hat es gesagt -, warum wurde ihm nicht erwidert: Wir haben doch auch den Aufmarschplan allein für den Osten? Es braucht durchaus nicht bezweifelt zu werden, daß Major Muff mit Recht von einem solchen Aufmarschplan auf dem Papiere spricht; aber Moltke hat ihn offenbar aus militärtechnischen Gründen in dem Zeitpunkte nicht für durchführbar gehalten, in dem die Entscheidung von ihm getroffen werden mußte.

Major Muff sagt auch: «Steiner will zweifellos seinen Schild über das Andenken Moltkes halten. In Wahrheit schiebt er ihm aber eine ungeheure Verantwortung zu, wenn er behauptet, daß durch des Generalstabschefs starren Aufmarschplan die Entscheidung über den Kriegsausbruch fiel.» Erstens habe ich, von mir aus, überhaupt nichts «behauptet», sondern einfach Moltkes eigene Aussagen getreulich wiedergegeben. Zweitens ist aus dieser Wiedergabe klar ersichtlich, daß die letzte Entscheidung nach dem Wortlaut des Interviews so fiel: «Um 11 Uhr wird er (Moltke) angeläutet... Er begibt sich sofort auf das Schloß. Wilhelm II.... sagt: Alles hat sich geändert. Der König von England hat soeben in einem neuen Telegramm erklärt, daß er mißverstanden worden sei und daß er weder in seinem Namen noch in demjenigen Frankreichs irgendeine Verpflichtung übernehme. Er schließt mit den Worten: Jetzt können Sie machen, was Sie wollen.»

Was auf den Durchzug durch Holland sich bezieht, habe ich bereits in Nr.17 dieser Wochenschrift besprochen. Bezüglich der Marneschlacht beruhen die Sätze des Interviews auf Mitteilungen von Moltkes; was Major Muff sagt, zum größten Teile auf Schlußfolgerungen, die aber das Wesentliche des Interviews gar nicht berühren. Denn dieses liegt in der Betonung der «Psychologie» des Kriegsverlaufes zur Zeit der Marneschlacht. Ich habe davon gesprochen, weil, wie auch Major Muff wieder tut, behauptet wird, «der Generalstabschef, dessen Führung überhaupt die sichere Hand vermissen ließ, mehr Schuld trug, als der Führer der 1. Armee» . Dieser Behauptung gegenüber kommt eben psychologisch Moltkes Aussage in Betracht. - Stellte man sich dem «Matin»-Interview unbefangen gegenüber, so würde man sehen, was man aus Moltkes Aussagen zur Entlastung Deutschlands gewinnen könne. In Frankreich lacht man sich auch darüber gar nicht «ins Fäustchen», sondern man sucht sie vorläufig, soviel als möglich, wenig zu besprechen. Denn die richtige Besprechung führt eben zu Dingen, die man noch nicht gerne hören will. In Deutschland sollte man diese Besprechung anders führen, als man es tut. Darüber wird in dieser Wochenschrift noch weiteres zu sagen sein.