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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Anthroposophische Leitsätze
GA 26

Das scheinbare Erlöschen der Geist-Erkenntnis in der Neuzeit

(Goetheanum, März 1925)

Wer die Anthroposophie in ihrem Verhältnis zur Entwickelung der Bewußtseinsseele richtig beurteilen will, der muß immer von neuem den Blick auf diejenige Geistesverfassung der Kulturmenschheit lenken, die mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften beginnt und die im neunzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht.

Man stelle sich doch den Charakter dieses Zeitalters vor das Seelenauge hin und vergleiche ihn mit dem früherer Zeitalter. In aller Zeit der bewußten Menschheitsentwickelung war die Erkenntnis als das angesehen, was den Menschen mit der Geistwelt zusammenbringt. Was man im Verhältnis zum Geiste war, das schrieb man der Erkenntnis zu. In Kunst, in Religion lebte die Erkenntnis.

Das wurde anders, als die Morgendämmerung des Bewußtseinszeitalters begann. Da fing die Erkenntnis an, sich um einen großen Teil des menschlichen Seelenlebens nicht mehr zu kümmern. Sie wollte erforschen, was der Mensch als Verhältnis zum Dasein entwickelt, wenn er seine Sinne und seinen beurteilenden Verstand nach der «Natur» richtet. Aber sie wollte sich nicht mehr mit dem beschäftigen, was der Mensch als Verhältnis zur Geist-Welt entwickelt, wenn er sein inneres Wahrnehmungsvermögen so gebraucht wie die Sinne.

So entstand die Notwendigkeit, das geistige Leben des Menschen nicht an das Erkennen der Gegenwart anzuschließen, sondern an Erkenntnisse der Vergangenheit, an Traditionen.

Entzwei gespalten wurde das menschliche Seelenleben. Vor dem Menschen stand die Natur-Erkenntnis, immer weiter strebend auf der einen Seite, in lebendiger Gegenwart sich entfaltend. Auf der ändern Seite war das Erleben eines Verhältnisses zur geistigen Welt, für das die entsprechende Erkenntnis in älteren Zeiten erflossen war. Für dieses Erleben verlor sich allmählich alles Verständnis, wie die entsprechende Erkenntnis in der Vorzeit zustande gekommen ist. Man hatte die Überlieferung, aber nicht mehr den Weg, auf dem die überlieferten Wahrheiten erkannt worden sind. Man konnte nur an die Überlieferung glauben.

Der Mensch, der sich in voller Besonnenheit etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die geistige Situation überlegte, hätte sich sagen müssen: Die Menschheit ist dazu gekommen, sich nur noch für fähig zu halten, eine Erkenntnis zu entfalten, die mit dem Geiste nichts zu tun hat. Was über den Geist gewußt werden kann, hat eine frühere Menschheit erforschen können; die Fähigkeit zu dieser Erforschung ist aber der menschlichen Seele verlorengegangen.

In der ganzen Tragweite stellte man sich nicht vor das Seelenauge, was da eigentlich vorlag. — Man beschränkte sich darauf, zu sagen: Erkenntnis reicht eben nicht bis zur geistigen Welt; diese kann nur Gegenstand des Glaubens sein.

Man blicke, um etwas Licht für diese Tatsache zu bekommen, in die Zeiten, in denen die griechische Weisheit vor dem christlich gewordenen Römertum zurückweichen mußte. Als die letzten griechischen Philosophenschulen durch den Kaiser Justinian geschlossen wurden, wanderten auch die letzten Bewahrer alten Wissens aus dem Gebiete fort, auf dem nun das europäische Geisteswesen sich entwickelte. Sie fanden Anschluß bei der Akademie von Gondischapur in Asien. Sie war eine der Stätten, wo im Osten durch die Taten Alexanders die Überlieferung von dem alten Wissen sich erhalten hatte. In der Form, die Aristoteles diesem alten Wissen hat geben können, lebte es da.

Aber es wurde ergriffen von derjenigen orientalischen Strömung, die man als Arabismus bezeichnen kann. Der Arabismus ist nach der einen Seite seines Wesens eine verfrühte Entfaltung der Bewußtseinsseele. Er bot durch das in der Richtung der Bewußtseinsseele zu früh wirkende Seelenleben die Möglichkeit, daß sich in ihm von Asien aus über Afrika, Südeuropa, Westeuropa eine geistige Welle ergoß, die gewisse europäische Menschen mit einem Intellektualismus erfüllte, der erst später kommen durfte; Süd- und Westeuropa bekamen im siebenten, achten Jahrhundert geistige Impulse, die erst im Zeitalter der Bewußtseinsseele hätten kommen dürfen.

Diese geistige Welle konnte das Intellektuelle im Menschen wecken, nicht aber das tiefere Erleben, durch das die Seele in die Geist-Welt taucht.

Wenn nun der Mensch im fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert sein Erkenntnisvermögen in Tätigkeit brachte, so konnte er nur bis zu einer Seelentiefe untertauchen, in der er noch nicht auf die geistige Welt stieß.

Der in das europäische Geistesleben einziehende Arabismus hielt die erkennenden Seelen von der Geist-Welt zurück. Er brachte — verfrüht — den Intellekt zur Wirksamkeit, der nur die äußere Natur fassen konnte.

Und dieser Arabismus erwies sich als sehr mächtig. Wer von ihm erfaßt wurde, in dem begann ein innerer — zum großen Teile ganz unbewußter — Hochmut die Seele zu ergreifen. Er empfand die Macht des Intellektualismus; aber er empfand nicht das Unvermögen des bloßen Intellektes, in die Wirklichkeit einzudringen. So überließ er sich denn der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit, die sich durch sich selbst vor den Menschen hinstellte; aber er kam gar nicht darauf, an die geistige Wirklichkeit heranzutreten.

Dieser Lage sah sich das mittelalterliche Geistesleben gegenüber. Es hatte die gewaltigen Überlieferungen von der Geist-Welt; aber sein Seelenleben war durch den — man möchte sagen: im geheimen — wirkenden Arabismus intellektualisch so imprägniert, daß sich der Erkenntnis kein Zugang bot zu den Quellen, aus denen der Inhalt dieser Überlieferung doch zuletzt stammte.

Es kämpfte nun vom frühen Mittelalter an das, was instinktiv in den Menschen als geistiger Zusammenhang gefühlt wurde, mit der Gestalt, die das Denken durch den Arabismus angenommen hatte.

Man fühlte die Ideenwelt in sich. Man erlebte sie als etwas Reales. Aber man fand in der Seele nicht die Kraft, in den Ideen den Geist zu erleben. So entstand der Realismus, der die Realität in den Ideen empfand, aber diese Realität nicht finden konnte. Der Realismus hörte in der Ideenwelt das Sprechen des Weltenwortes, er war aber nicht fähig, die Sprache zu verstehen.

Der Nominalismus, der sich ihm entgegenstellte, leugnete, weil das Sprechen nicht verstanden werden konnte, daß es überhaupt vorhanden sei. Für ihn war die Ideenwelt nur eine Summe von Formeln in der menschlichen Seele ohne eine Wurzelung in einer geistigen Realität.

Was in diesen Strömungen wogte, es lebte fort bis in das neunzehnte Jahrhundert. Der Nominalismus wurde die Denkungsart der Natur-Erkenntnis. Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnenfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt. — Der Realismus lebte ein totes Dasein. Er wußte von der Realität der Ideenwelt; aber er konnte im lebendigen Erkennen nicht zu ihr gelangen.

Man wird zu ihr gelangen, wenn Anthroposophie den Weg finden wird von den Ideen zu dem Geist-Erleben in den Ideen. In dem wahrhaft fortgebildeten Realismus muß dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite treten, der zeigt, daß die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist, sondern in einem neuen Aufstieg aus neu eröffneten menschlichen Seelenquellen in die menschliche Entwickelung wieder eintreten kann.

Goetheanum, März 1925.

Leitsätze Nr. 177 bis 179

(29. März 1925)

(Mit Bezug auf die vorangehende Betrachtung: Das scheinbare Erlöschen der Geist-Erkenntnis in der Neuheit)

177. Wer den Seelenblick auf die Entwickelung der Menschheit im naturwissenschaftlichen Zeitalter wirft, dem bietet sich zunächst eine traurige Perspektive. Glänzend wird die Erkenntnis des Menschen in bezug auf alles, was Außenwelt ist. Dagegen tritt eine Art Bewußtsein ein, als ob eine Erkenntnis der Geist-Welt überhaupt nicht mehr möglich sei.

178. Es scheint, als ob eine solche Erkenntnis die Menschen nur in alten Zeiten gehabt hätten, und als ob man mit Bezug auf die geistige Welt sich eben damit begnügen müsse, die alten Traditionen aufzunehmen und zu einem Gegenstande des Glaubens zu machen.

179. Aus der Unsicherheit, die aus diesem gegenüber dem Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt im Mittelalter hervorgeht, entsteht der Unglaube an den Geist-Inhalt der Ideen im Nominalismus, dessen Fortsetzung die moderne Naturanschauung ist, und als Wissen von der Realität der Ideen ein Realismus, der aber erst durch die Anthroposophie seine Erfüllung finden kann.