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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Correspondence with Marie Steiner
1901–1925
GA 262

Translated by Steiner Online Library

197

An Rudolf Steiner in Dornach
Sonntag, 1. Juni 1924

Hannover, 1. Juni 1924

Lieber E. Besten Dank für Dein Telegramm; so weiß ich, dass Paris glücklich überstanden ist. Wir sind nun in Hannover, hatten heute Generalprobe, morgen Vorstellung. Donath ist mal wieder krank, liegt heute zu Bett, hofft aber morgen zu erscheinen. Ich bin heute recht müde, komme eben von einem Kaffee mit Haddon 13Miss Janet Haddon (1857-1943), Mitglied in Hannover seit Oktober 1907, mit ihrer Freundin Martha Müller führte sie später eine eigene Arbeitsgruppe in Hannover. und Müller, und muss bald zu einem geselligen Zusammensein mit andern Mitgliedern. Das Theater - die Schauburg - ist sehr schön. Was uns wohl da blühen wird! In Hildesheim ging alles glatt, — der Besuch war gering, aber so, wie er im Hildesheimer Theater zu sein pflegt: 150 Menschen ungefähr. Eine Anzahl Hannoveraner waren aber brav herübergekommen, da es in Hildesheim nur das eine Mitglied Hensel gibt. Der Theaterdirektor war sehr entzückt (heißt es), und hat sogar statt der Miete die eingenommenen Marks zwischen uns zwei Parteien geteilt. Geklatscht wurde fleißig; bloß ein Rezensent von einer dort bekannten Zeitung, ein dummer Junge, sagt Hensel, soll über das Tanzen von Gedichten geschimpft haben. Sonst soll alles begeistert gewesen sein. - In Naumburg war der Saal ganz voll und die Stimmung eine sehr mitgehende, viel Beifall. Als alles zu Ende war, schwang sich ein Mensch auf die Bühne erst sah es aus als ob er danken wollte für die Genüsse -, dann fing er an darüber zu reden, dass damit Anthroposophie zum ersten Mal in die Öffentlichkeit gekommen sei, dass man bedenken solle, wo man sei - im Rathaus, in der Reichskrone - hier wurde die Geschichte recht unverständlich - - Er lege Verwahrung ein gegen den Missbrauch deutscher Dichtung — - Hier frug ich: Mit welchem Rechte stehen Sie denn überhaupt da und reden?, — worauf sich unsere Herren in Bewegung setzten und ihn hinunterbeförderten. Das Publikum stand auf unserer Seite. Aber am andern Tage hörte ich, als Meinung gewisser Mitglieder, man hätte ihn doch zu hart behandelt und ihn zu Ende reden lassen sollen; er wäre ein «kunstkundiger» Mann. Er soll ein früherer Kommunist gewesen sein, ein Maler, dann Dadaist, und jetzt hätte er eine Anstellung in reaktionären Kreisen; wäre aber empört, dass Stadt-Baurat Hossfeld 14Friedrich Hossfeld (1879-1972), Architekt und Regierungsbaumeister, Mitglied seit April 1921. Ab ca. 1909 Stadtbaumeister in Naumburg. (unser Mitglied) den Mund aus Leipzig beschäftige, statt ihn. Die Geschichte hat auch ein Nachspiel in der Zeitung. - Zwei Erfurter Zeitungen haben sich sehr lobend über die Eurythmie ausgesprochen, die dritte, die den Pfeifer angestellt hat, hat geschimpft, was das Zeug hält. In Erfurt wollte eine Theaterverschließerin mich nicht hinunterlassen ins Auto, denn sie sagte, es stünden da verdächtige Gestalten und man könne heutzutage nicht wissen, was passiere; sie kenne uns von München her. Es sollten erst andere mit dem Auto abfahren und mich später abholen. So geschah es; das Merkwürdige war, dass, als ich abfuhr, an 3 Ecken sich Polizisten in Gruppen aufgestellt hatten.

Da ich unterwegs mehrere Briefe und Telegramme aus Görlitz und Breslau gehabt hatte, habe ich zugesagt, die Vorstellung dort zu geben; nur konnte ich nicht mehr eine extra Vorstellung für Pfingsten vorbereiten. Das wurde noch vor Erfurt beschlossen. Jetzt habe ich freilich nicht die Meinung, dass es gut ist, die Reise zu verlängern. Die Pässe reichen bis zum 20.; und ich hätte noch Stuttgart, Konstanz — oder Heidelberg, Konstanz anfügen können.

Der Theaterdirektor in Erfurt hat sich aber durchaus begeistert ausgesprochen und hat zu Schuurman gesagt, dies könne nur eine persönliche Sache sein (die Opposition!).

2. Juni

Es wurde mir eine Einladung aus Heidelberg übermittelt, über die Du noch etwas schreiben wolltest.

Stuttgart wäre ja gefahrlos, aber sie kennen zum Teil das Programm. Und da ich durch die zwei Vorstellungen dem Rezitationskursus doch nicht ganz gerecht werden könnte, wollte ich mir die Möglichkeit offen lassen, eventuell zwei Stunden hinterdrein anzuschließen. Waller wollte ja hinkommen und könnte dann mit mir zurückreisen. - Ist sie denn jetzt zurück von ihrer phantastischen Fahrt?

In Halle brauchst Du mich wirklich nicht abzuholen. Es ist ja nicht der grade Weg für Dich; und ich kann mit der ganzen Gruppe weiterreisen, nachdem ich Herrn Halt dort entlassen habe. Es könnte auch grade die Stadt sein, wo wieder was passiert, und es ist wohl besser, Du kommst überhaupt nicht hin. Einige Naumburger werden hinüberkommen.

Eben habe ich ein Programm aus Koberwitz erhalten, aus dem ich ersehe, dass wir erst am 17. werden abreisen können. Somit ist es klar, dass die Tournee damit abgeschlossen ist. Dem Dr. Rittelmeyer habe ich für seine Tagung Anfang August zugesagt. Kisseleff hat einen schönen Pfingstspruch von Dir.15«Wo Sinneswissen endet...», siehe «Wahrspruchworte», GA 40 und Tatiana Kisseleff «Aus der EurythmieArbeit», Basel 1965. Vor der Abreise gab ich Dir so viel Englisches, dass ich damit Dir nicht kommen wollte. Wenn Du jetzt vielleicht eine Form dafür würdest machen wollen, so frage nach dem Spruch bei ihr; sie wird selig sein und wir auch.

Hier wird heute abend ein Herr von der Decken,16Claus von der Decken (1888-1977), Kunstmaler, Juni 1908 Mitglied in Düsseldorf, aber 1911 wieder gestrichen. 1922 Mitbegründer der Christengemeinschaft, Priester zunächst in Hannover, dann Lübeck, schließlich Kassel. ein Priester, die einleitenden Worte sprechen; er hat recht geschickte Artikel über Eurythmie verfasst, und scheint ein sehr intelligenter, rühriger Mensch zu sein.

Morgen haben wir einen freien Tag und wollen auf den Brokken, womöglich da übernachten, und übermorgen nach Halle, Hotel Stadt Hamburg.

Allerherzlichste Grüße und Wünsche Marie

197

An Rudolf Steiner in Dornach
Sonntag, 1. Juni 1924

Hannover, 1. Juni 1924

Lieber E. Besten Dank für Dein Telegramm; so weiß ich, dass Paris glücklich überstanden ist. Wir sind nun in Hannover, hatten heute Generalprobe, morgen Vorstellung. Donath ist mal wieder krank, liegt heute zu Bett, hofft aber morgen zu erscheinen. Ich bin heute recht müde, komme eben von einem Kaffee mit Haddon 13Miss Janet Haddon (1857-1943), Mitglied in Hannover seit Oktober 1907, mit ihrer Freundin Martha Müller führte sie später eine eigene Arbeitsgruppe in Hannover. und Müller, und muss bald zu einem geselligen Zusammensein mit andern Mitgliedern. Das Theater - die Schauburg - ist sehr schön. Was uns wohl da blühen wird! In Hildesheim ging alles glatt, — der Besuch war gering, aber so, wie er im Hildesheimer Theater zu sein pflegt: 150 Menschen ungefähr. Eine Anzahl Hannoveraner waren aber brav herübergekommen, da es in Hildesheim nur das eine Mitglied Hensel gibt. Der Theaterdirektor war sehr entzückt (heißt es), und hat sogar statt der Miete die eingenommenen Marks zwischen uns zwei Parteien geteilt. Geklatscht wurde fleißig; bloß ein Rezensent von einer dort bekannten Zeitung, ein dummer Junge, sagt Hensel, soll über das Tanzen von Gedichten geschimpft haben. Sonst soll alles begeistert gewesen sein. - In Naumburg war der Saal ganz voll und die Stimmung eine sehr mitgehende, viel Beifall. Als alles zu Ende war, schwang sich ein Mensch auf die Bühne erst sah es aus als ob er danken wollte für die Genüsse -, dann fing er an darüber zu reden, dass damit Anthroposophie zum ersten Mal in die Öffentlichkeit gekommen sei, dass man bedenken solle, wo man sei - im Rathaus, in der Reichskrone - hier wurde die Geschichte recht unverständlich - - Er lege Verwahrung ein gegen den Missbrauch deutscher Dichtung — - Hier frug ich: Mit welchem Rechte stehen Sie denn überhaupt da und reden?, — worauf sich unsere Herren in Bewegung setzten und ihn hinunterbeförderten. Das Publikum stand auf unserer Seite. Aber am andern Tage hörte ich, als Meinung gewisser Mitglieder, man hätte ihn doch zu hart behandelt und ihn zu Ende reden lassen sollen; er wäre ein «kunstkundiger» Mann. Er soll ein früherer Kommunist gewesen sein, ein Maler, dann Dadaist, und jetzt hätte er eine Anstellung in reaktionären Kreisen; wäre aber empört, dass Stadt-Baurat Hossfeld 14Friedrich Hossfeld (1879-1972), Architekt und Regierungsbaumeister, Mitglied seit April 1921. Ab ca. 1909 Stadtbaumeister in Naumburg. (unser Mitglied) den Mund aus Leipzig beschäftige, statt ihn. Die Geschichte hat auch ein Nachspiel in der Zeitung. - Zwei Erfurter Zeitungen haben sich sehr lobend über die Eurythmie ausgesprochen, die dritte, die den Pfeifer angestellt hat, hat geschimpft, was das Zeug hält. In Erfurt wollte eine Theaterverschließerin mich nicht hinunterlassen ins Auto, denn sie sagte, es stünden da verdächtige Gestalten und man könne heutzutage nicht wissen, was passiere; sie kenne uns von München her. Es sollten erst andere mit dem Auto abfahren und mich später abholen. So geschah es; das Merkwürdige war, dass, als ich abfuhr, an 3 Ecken sich Polizisten in Gruppen aufgestellt hatten.

Da ich unterwegs mehrere Briefe und Telegramme aus Görlitz und Breslau gehabt hatte, habe ich zugesagt, die Vorstellung dort zu geben; nur konnte ich nicht mehr eine extra Vorstellung für Pfingsten vorbereiten. Das wurde noch vor Erfurt beschlossen. Jetzt habe ich freilich nicht die Meinung, dass es gut ist, die Reise zu verlängern. Die Pässe reichen bis zum 20.; und ich hätte noch Stuttgart, Konstanz — oder Heidelberg, Konstanz anfügen können.

Der Theaterdirektor in Erfurt hat sich aber durchaus begeistert ausgesprochen und hat zu Schuurman gesagt, dies könne nur eine persönliche Sache sein (die Opposition!).

2. Juni

Es wurde mir eine Einladung aus Heidelberg übermittelt, über die Du noch etwas schreiben wolltest.

Stuttgart wäre ja gefahrlos, aber sie kennen zum Teil das Programm. Und da ich durch die zwei Vorstellungen dem Rezitationskursus doch nicht ganz gerecht werden könnte, wollte ich mir die Möglichkeit offen lassen, eventuell zwei Stunden hinterdrein anzuschließen. Waller wollte ja hinkommen und könnte dann mit mir zurückreisen. - Ist sie denn jetzt zurück von ihrer phantastischen Fahrt?

In Halle brauchst Du mich wirklich nicht abzuholen. Es ist ja nicht der grade Weg für Dich; und ich kann mit der ganzen Gruppe weiterreisen, nachdem ich Herrn Halt dort entlassen habe. Es könnte auch grade die Stadt sein, wo wieder was passiert, und es ist wohl besser, Du kommst überhaupt nicht hin. Einige Naumburger werden hinüberkommen.

Eben habe ich ein Programm aus Koberwitz erhalten, aus dem ich ersehe, dass wir erst am 17. werden abreisen können. Somit ist es klar, dass die Tournee damit abgeschlossen ist. Dem Dr. Rittelmeyer habe ich für seine Tagung Anfang August zugesagt. Kisseleff hat einen schönen Pfingstspruch von Dir.15«Wo Sinneswissen endet...», siehe «Wahrspruchworte», GA 40 und Tatiana Kisseleff «Aus der EurythmieArbeit», Basel 1965. Vor der Abreise gab ich Dir so viel Englisches, dass ich damit Dir nicht kommen wollte. Wenn Du jetzt vielleicht eine Form dafür würdest machen wollen, so frage nach dem Spruch bei ihr; sie wird selig sein und wir auch.

Hier wird heute abend ein Herr von der Decken,16Claus von der Decken (1888-1977), Kunstmaler, Juni 1908 Mitglied in Düsseldorf, aber 1911 wieder gestrichen. 1922 Mitbegründer der Christengemeinschaft, Priester zunächst in Hannover, dann Lübeck, schließlich Kassel. ein Priester, die einleitenden Worte sprechen; er hat recht geschickte Artikel über Eurythmie verfasst, und scheint ein sehr intelligenter, rühriger Mensch zu sein.

Morgen haben wir einen freien Tag und wollen auf den Brokken, womöglich da übernachten, und übermorgen nach Halle, Hotel Stadt Hamburg.

Allerherzlichste Grüße und Wünsche Marie