Collected Essays on Cultural and Contemporary History 1887–1901
GA 31
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62. Friedrich Jodl “The Nature and Aims of the Ethical Movement in Germany”
I have often spoken in this journal of the revolutionization of minds in the nineteenth century. I have said that by delving into the essence of nature and through bold, free self-knowledge, we are on the way to building a world view that will drive the religious ideas that have prevailed in past centuries out of people's minds and hearts. But I have also always emphasized that the modern free world view is only slowly taking hold of the minds, and that backward views, dressed up again and again with a little new make-up, stand in the way of the triumphant course of this world view. Only those who penetrate into the spirit of the scientific knowledge of this century and are able to grasp the position of man in the world with the free view gained through this penetration are called to speak about the demands of modern times. However, there are people who are unable to gain the necessary clear view. They then try to salvage all possible scraps of the old world view for the new age and want to use such heirlooms to have a reforming effect on the present. Among them are the leaders of the so-called "Society for Ethical Culture". I can see this anew from a pamphlet that has just appeared in its second edition and bears the title: "The nature and aims of the ethical movement in Germany". It was written by the Viennese philosophy professor Friedrich Jodl. One gets an idea of the philosophy that the learned gentleman represents when one reads his sentences (p. 15): "We are based on the conviction that there is a science of moral life, as there is a natural science, as there is a science of economic life; and that the time is past, irretrievably past, when science existed at all only in the service and as a component of religion." The brain is reluctant to contemplate such sentences. Esteemed Professor! There is only one view of the world, and our moral knowledge flows from it, just like our economic and scientific knowledge. And those who have moral, scientific and economic knowledge running side by side have not yet arrived at a unified world view. As long as this world view was based on religious revelation, it had to have a moral view in the sense of this revelation in its wake. And anyone who draws his world view not from the Bible, but from modern knowledge of nature and humanity, must also arrive at moral convictions that are in the spirit of this knowledge. And ethics, as this professor of philosophy wants it to be, is its goal (p. 15): "harmonious shaping of the personality, inner aptitude of will and character and the welfare and capacity for development of the sex" and which wants to achieve this goal without taking any world view as a basis and without any outflow of it, is a sum of empty phrases. But the society that has been established to cultivate such ethics is an education without content that wants to cultivate a morality built on nothing, because it is incapable of building ethics in the sense of modern knowledge.
62. Friedrich Jodl «Wesen und Ziele der Ethischen Bewegung in Deutschland»
Oft habe ich in dieser Zeitschrift von der Revolutionierung der Geister im neunzehnten Jahrhundert gesprochen. Ich habe gesagt, daß wir auf dem Wege sind, durch Vertiefung in das Wesen der Natur und durch kühne, freie Selbsterkenntnis uns eine Weltanschauung aufzubauen, durch welche die in den verflossenen Jahrhunderten herrschenden religiösen Vorstellungen aus Köpfen und Herzen der Menschen vertrieben werden sollen. Aber ich habe auch stets betont, daß sich die moderne freie Weltanschauung nur langsam der Geister bemächtigt, und daß rückständige Ansichten immer wieder und wieder mit etwas neuer Schminke aufgeputzt, dem Siegeslauf dieser Weltanschauung sich hemmend in den Weg stellen. Nur wer in den Geist der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieses Jahrhunderts eindringt und mit dem durch dieses Eindringen gewonnenen freien Blick die Stellung des Menschen in der Welt zu erfassen imstande ist, ist berufen, über die Anforderungen der modernen Zeit zu sprechen. Es gibt aber Leute, die durchaus den erforderlichen freien Blick nicht gewinnen können. Sie versuchen dann alle möglichen Fetzen der alten Weltanschauung herüberzuretten in die neue Zeit und wollen mit solchen Erbstücken reformierend auf die Gegenwart einwirken. Zu ihnen gehören die Führer der sogenannten «Gesellschaft für ethische Kultur». Ich ersehe dies aufs neue aus einem Schriftchen, das soeben in zweiter Auflage erschienen ist und den Titel trägt: «Wesen und Ziele der ethischen Bewegung in Deutschland». Es hat den Wiener Philosophieprofessor Friedrich Jodl zum Verfasser. Von der Philosophie, die der gelehrte Herr vertritt, erhält man eine Vorstellung, wenn man seine Sätze (S. 15) liest: «Wir fußen auf der Überzeugung, daß es eine Wissenschaft vom sittlichen Leben gibt, wie es eine Naturwissenschaft, wie es eine Wissenschaft vom wirtschaftlichen Leben gibt; und daß die Zeit vorüber, unwiderbringlich vorüber ist, wo es Wissenschaft überhaupt nur im Dienste und als Bestandteil der Religion gab.» Das Gehirn sträubt sich, solche Sätze nachzudenken. Verehrtester Herr Professor! Es gibt nur eine Weltansicht, und aus dieser fließen unsere sittlichen Erkenntnisse, wie unsere wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen. Und bei demjenigen, bei dem sittliche, naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Erkenntnisse nebeneinanderherlaufen, der hat es eben noch nicht zu einer einheitlichen Weltanschauung gebracht. Solange sich diese Weltanschauung auf der religiösen Offenbarung aufbaute, solange mußte sie eine sittliche Ansicht im Sinne dieser Offenbarung im Gefolge haben. Und wer seine Weltansicht nicht aus der Bibel, sondern aus der modernen Natur- und Menschheitserkenntnis schöpft, muß auch zu sittlichen Überzeugungen kommen, die im Sinne dieser Erkenntnis sind. Und eine Ethik, wie sie dieser Professor der Philosophie will, deren Ziel ist (S. 15): «harmonische Ausgestaltung der Persönlichkeit, innere Trefflichkeit des Willens und Charakters und Wohlfahrt und Entwicklungsfähigkeit des Geschlechtes» und die dieses Ziel ohne Zugrundelegung und Ausfluß irgendeiner Weltanschauung erreichen will, ist eine Summe leerer Redensarten. Die Gesellschaft aber, die zur Pflege solcher Ethik errichtet worden ist, ist eine inhaltlose Bildung, die eine auf nichts gebaute Sittlichkeit pflegen will, weil sie eine im Sinne moderner Erkenntnis gehaltene Ethik aufzubauen unfähig ist.