Our bookstore now ships internationally. Free domestic shipping $50+ →

The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Ideenabwege und Publizistenmoral

Bemerkenswert ist ein Bekenntnis, zu dem sich der sozialistische Theoretiker Karl Kautsky in seinem soeben erschienenen Buch «Wie der Weltkrieg entstand» gezwungen sieht. Kautsky spricht über die Schuldfrage. Er kann selbstverständlich nicht anders als auf Personen und Institutionen deuten, bei denen die Ursachen der fürchterlichen Weltkatastrophe zu suchen sind. Er fühlt, wie er damit gegen einen Glaubenssatz einer sozialistischen Theorie verstößt, deren Verteidiger er seit Jahrzehnten ist. Er sagt: «Marx hat gelehrt, nicht durch einzelne Personen und Institutionen werde der Gang der Geschichte bestimmt, sondern in der letzten Linie durch die ökonomischen Verhältnisse. Der Kapitalismus erzeuge in seiner höchsten Form, der des Finanzkapitales, überall den Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung des Staatsgebietes... Nicht einzelne Personen und Institutionen seien schuldig, sondern der Kapitalismus als Ganzes; diesen müsse man bekämpfen.»

Wer die Entwickelung der marxistisch gefärbten sozialistischen Parteiströmung kennt, der weiß, wie die in obigen Sätzen kristallisierte Doktrin den breiten Massen des Proletariats in die Köpfe eingehämmert worden ist. Man kann mit einer solchen Doktrin trefflich agitieren. Man kann mit ihr Parteiprogramme schmieden. Wie man mit ihr der Wirklichkeit des Lebens gegenübersteht, das zeigt sich nun bei Kautsky in dem Augenblicke, wo er nicht etwa mit der Doktrin an dem Aufbau des sozialen Organismus arbeiten soll, sondern wo er nur ein sachgemäßes Urteil über die zerstörenden Mächte dieses Organismus gewinnen will. Er findet sich gedrängt, über das Urteil, der Kapitalismus sei der Schuldige am Weltkriege, zu sagen: «Dies klingt sehr radikal und wirkt doch sehr konservativ überall dort, wo es das praktische Arbeiten beherrscht. Denn der Kapitalismus ist nichts als eine Abstraktion, die gewonnen wird aus der Beobachtung zahlreicher Einzelerscheinungen... Bekämpfen kann man eine Abstraktion nicht, außer theoretisch; nicht aber praktisch.» Und dann gesteht er, daß man in der Lebenspraxis gezwungen sei, das Augenmerk zu richten «gegen bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen».

Es verlohnte sich nicht, auf solche Geständnisse hinzuweisen, wenn sie bei Dutzendagitatoren auftreten. Aber Kautsky ist kein Dutzendagitator. Er ist ein gewissenhafter, wissenschaftlich verfahrender Sozialist. Er ist unter seinesgleichen einer der allerbesten.

Er sieht sich veranlaßt, den Schritt von einer lebensfeindlichen Parteidogmatik in die Wirklichkeit des Lebens zu machen, da er ausfindig machen will, «wie der Weltkrieg entstand». Alle beliebten Parteiabstraktionen müssen da zerflattern. Der tatsächliche Beweis ist geliefert, daß man mit solchen Abstraktionen Parteien begründen kann, daß man aber mit ihnen der Lebenspraxis völlig fremd gegenübersteht. Sollte eine solche Tatsache nicht ein helles Licht werfen auf die zerstörende Wirkung, welche Parteien haben müssen, die das Leben nach ihren Abstraktionen modeln wollen?

Die Antriebe zur Dreigliederung des sozialen Organismus finden ihre hauptsächlichste Gegnerschaft an den Parteidogmatismen, die in Abstraktionen wurzeln. Denn diese Antriebe gehen von der Einsicht in die Unfruchtbarkeit solcher Abstraktionen aus. Sie stellen sich bei Behandlung der sozialen Fragen auf den Gesichtspunkt möglichst ausgebreiteter Lebensbeobachtung. Man kann natürlich nicht behaupten, daß bei Betrachtung und Gestaltung des Lebens Abstraktionen nicht notwendig seien. Aber es kommt auf den Geist an, in dem man abstrahiert. Man sollte beim Abstrahieren nie den Blick verlieren für «bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen». Das Abstrahieren kann ein Instrument sein, um an das Leben heranzukommen; aber es wird für den, der es so ansieht, nie zum Hemmschuh werden für die Arbeit innerhalb der wirklichen Lebenspraxis.

Es widerlegt das hier Gesagte nicht, wenn Kautsky dann weiter (siehe Seite 14 seines Buches) fortfährt: «Es ist ... keineswegs Marxismus, wenn man von der Nachforschung nach den schuldigen Personen durch den Hinweis auf die unpersönliche Schuld des Kapitalismus ablenken will.» Denn dieser Satz ist auch weiter nichts als ein Ausfluß der lebensfremden Parteidogmatik. In einem besonderen Falle sieht sich Kautsky zum Uminterpretieren dieser Dogmatik gezwungen, weil er ohne dieses sein Buch nicht hätte schreiben können. Wenn es sich aber darum handeln würde, daß solch ein Parteimann über die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus urteilen sollte, dann würden die «Abstraktionen» von der Art des «Kapitalismus» sofort wieder wie auf militärisches Kommando aufmarschieren und von einer lebensgemäßen Arbeit den Blick «ablenken». Ob man theoretisch behaupten kann, irgend etwas sei «Marxismus» oder nicht, das ist belanglos für das wirkliche Leben; belangvoll ist allein, welchen Geist der Marxismus in seine Träger gießt.

Für dasjenige, was hier gemeint ist, kann der Marxismus nur ein Beispiel sein. Denn andere Parteidoktrinen tragen einen gleich wirklichkeitsfremden Charakter. Die Schäden unseres sozialen Lebens beruhen auf der krankhaften Zeiterscheinung, auf die hier gedeutet wird. - Man kann sich nun denken, wie jemand, der unter dem Einflusse dieser Zeitkrankheit steht, mit Einwänden gegen das Gesagte leicht sich einfinden wird. Er kann sagen: Ja, Kautsky kann natürlich nicht den abstrakten Kapitalismus anklagen; wie soll man aber auf bestimmte Personen deuten, wenn man eine allgemeine soziale Lebensanschauung ausarbeiten will? Das kann man selbstverständlich nicht. Was man aber kann, das ist, eine solche Anschauung so auf die Erkenntnis der Wirklichkeit aufbauen, daß in ihrer Folge Institutionen entstehen, in denen Personen leben können. Und baut man eine solche Anschauung auf, dann wird sie ohne künstliche Umdeutung im Sinne des Kautskyschen Geständnisses auf Verhältnisse der Wirklichkeit anwendbar sein. Die Abstraktionen, mit denen auch eine solche Anschauung arbeiten muß, werden gar nicht nötig machen, zu betonen, daß man gegen sie nicht praktisch kämpfen kann; denn sie werden durch ihre eigene Wesenheit überall auf das Wirkliche hinweisen, das man zu bekämpfen hat.

Unter dem Einflusse der wirklichkeitsfremden Ideen, die sich gegenwärtig oft für die allein praktischen halten, steht fast alles, was sich ablehnend zu der Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus verhält. Wer sich auf den Boden wirklicher Lebensbeobachtung stellte, mit dem ließe sich diskutieren. Denn selbstverständlich sollte niemand, der sich zur Idee von der Dreigliederung bekennt, behaupten, daß alles, was von den Trägern dieser Idee an Vorschlägen für dies oder jenes vorgebracht wird, unanfechtbar sei. Was aber behauptet werden muß, das ist, daß sich diese Träger auf den Boden einer Lebensansicht stellen, gegen die alle diejenigen gesündigt haben, welchen durch die schmerzlichen Ereignisse der letzten Jahre das Lebensfremde ihrer Ideen erwiesen ist.

Ein weiter Weg ist von der Schädlichkeit, die den Zeitströmungen von der geschilderten Art anhaftet, bis zu derjenigen, die in der gegenwärtigen Zeit ihre widerwartigen Blüten dadurch treibt, daß in das öffentliche Leben hinein Dinge gesagt werden, denen jeder Zusammenhang mit der Wirklichkeit fremd ist. Und dennoch, ein Geschlecht, das, solange es geht, in wesenlosen Abstraktionen sich erzieht, das verliert nach und nach das Verantwortlichkeitsgefühl für den Zusammenhang dessen, was man glaubt, sagen zu können, mit dem, was wirklich ist. Das tritt demjenigen so recht vor Augen, der selbst davon betroffen wird. - In diesen Tagen ist durch eine Reihe deutscher Zeitungen eine Notiz gegangen: «Der Theosoph Steiner als Handlanger der Entente.» Alles, was in dieser Notiz steht, ist vom Anfang bis zum Ende eine verleumderische Unwahrheit. Die Verleumdung geht sogar so weit, daß von Briefstellen geredet wird, die Angaben herausfordern sollen, durch die man der Entente dienen will. Das alles ist weiter nichts als die unsinnigste Unwahrheit.

Ich werde viel angefeindet. Ich habe bisher über fast alles geschwiegen. Ich halte es für unfruchtbar, mich mit Persönlichkeiten herumzustreiten, die es mit ihrem Verantwortlichkeitsgefühl vereinbar halten, den Unsinn zu schreiben: «Über Steiner ... klagte man in der letzten Zeit unter seiner Umgebung, daß er steril werde, keine neuen <Schauungen> mehr habe und immer nur dasselbe vortrage; er werde vermutlich sich bald auf etwas Neues werfen.» Was hat es für einen Wert, sich mit jemandem auseinanderzusetzen, dem seine Geistesverfassung erlaubt, einen Weg zur Wahrheit auf solchen Grundlagen zu suchen! Wurde doch sogar behauptet, ich sei einmal katholischer Priester gewesen, und dann diese unwahre Behauptung von der gleichen Seite, von der sie weiterverbreitet wurde, mit den Worten zurückgenommen: dies lasse sich wohl jetzt nicht mehr halten. Ich polemisiere nicht gerne gegen Leute, die nicht, bevor sie eine Sache behaupten, sich erst überzeugen, ob sie wahr ist.

Doch man muß heute selbst von gelehrten Leuten es erfahren, daß sie Behauptungen ungeprüft nachsprechen und sagen: Die Sache sei nicht widerlegt worden.

Für diesmal möchte ich gegenüber der oben gekennzeichneten verleumderischen Unwahrheit nur das folgende sagen: Man kennt die trüben Quellen, aus denen solche Dinge stammen. Man kennt auch den Boden, auf dem die Absichten wachsen, die aus ihnen sprechen. Man weiß aber auch, daß ein Nachweis, daß solche Dinge objektiv unwahr sind, nichts fruchtet gegenüber diesen Absichten. Wünschen möchte man nur, daß möglichst viele Menschen die Naivität ablegen, die sie verhindert, derlei Dinge zu durchschauen. Denn nur dadurch könnte manches besser werden, das in unserer Zeit gar sehr der Besserung bedarf. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß ich trotz dieser Auseinandersetzung die irrenden Abstraktlinge nicht mit denen zusammenwerfe, die ich zuletzt hier charakterisiert habe.