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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Es darf nicht neuer Czerninismus den alten ablösen

Die Weltkatastrophe hat bewirkt, daß heute gewisse Persönlichkeiten sidi öffentlich in einer Richtung aussprechen, in der sie noch vor kurzem das Versdiweigen ihrer Meinungen für ein Gebot der Klugheit gehalten hätten Aus den Veröffentlichungen der Männer, die vor und während der Unheilszeit in führenden Stellungen waren, kann die Welt erfahren, aus welchen Willensantrieben heraus «Geschichte gemacht» worden ist. Was da erfahren werden kann, scheint nun wahrhaft geeignet, Menschen zur Besinnung zu bringen, die bisher dazu neigten, sich über diese Willensantriehe in Illusionen zu wiegen. In dem Buche «Im Weltkriege» von Ottokar Czernin kann man lesen: «Es ist bekannt, daß der rote Faden, welcher sich durch den Charakter und den ganzen Gedankengang Wilhelms II. zog, seine feste Überzeugung von seinem <Gottesgnadentum> und von den <in dem deutschen Volke unausrottbar wurzelnden dynastischen Gefühlen> war. Auch Bismarck glaubte an das dynastische Gefühl der Deutschen. Mir scheint, daß es ebensowenig ein allgemein dynastisches als ein allgemein republikanisches Gefühl der Völker gibt, bei den Deutschen ebensowenig wie irgendwo anders, sondern nur ein Gefühl der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, welche sich je nachdem für oder gegen die Dynastie und die Staatsform äußert.. . Die Monarchisten, die sich aus ihrer angestammten Treue für das Herrscherhaus ein Verdienst vindizieren, täuschen sich selbst über ihre Gefühle; sie sind Monarchisten, weil sie diese Staatsform für die befriedigendste halten. Und die Republikaner, welche angeblich die <Majestät des Volkes> verherrlichen, meinen de facto sich selbst dabei. Ein Volk aber wird sich auf die Dauer immer zu jener Staatsform bekennen, welche ihm am ehesten Ordnung, Arbeit, Wohlstand und Zufriedenheit bringt. Bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ist der Patriotismus und ihre Begeisterung für die eine oder andere Staatsform immer nur eine Magenfrage.»

Das ist die Gesinnung eines Mannes, von dem man vielleicht sogar sagen kann, daß er unter den in öffentlichen Angelegenheiten Führenden nicht zu denjenigen gehört, die am wenigsten Geist gezeigt haben. So spricht sich der Mann aus, der im Auftrage seines Monarchen die österreichische Außenpolitik in den entscheidenden Augenblicken der Weltgeschichte geleitet hat. Ein helles Licht fällt von solchen Äußerungen auf die Frage: Wie müssen die Wege beschaffen gewesen sein, durch die in der ablaufenden Gegenwart Persönlichkeiten von solcher Lebensauffassung in führende Stellungen gekommen sind? Ein Mann, der so spricht, hat keine Empfindung für die Antriebe, durch die Menschen in die Gemeinschaften gedrängt worden sind, aus denen die Zivilisation hervorgegangen ist. Ihm fehlt jedes Gefühl für die Mächte, die in der Geschichte gewaltet haben. Er ist das Ergebnis einer Zeitentwickelung, welche in führende Stellungen gerade diejenigen Persönlichkeiten gebracht hat, die allen Zusammenhang mit den Menschheitsidealen verloren haben.

Czernin sagt auch: «Der verlorene Krieg hat die Monarchen hinweggefegt.» Nun, die Zeitereignisse müssen auch Menschen seiner Art aus der Führung der öffentlichen Angelegenheiten hinwegfegen. - Es handelt sich aber darum, daß möglichst viele Menschen zur Besinnung über dasjenige kommen, was der Grund davon ist, daß Menschen dieser Art «Geschichte machen» konnten. Die Entwickelungsströmung der Menschheit, die solche Persönlichkeiten auf die wichtigsten Posten des öffentlichen Lebens getragen hat, sie hatte einmal ihre weltgeschichtlichen Ideen. Sie hat aus diesen heraus das jetzt untergehende Europa gestaltet. Man kann diese Ideen verfolgen von den Zeiten an, in denen sich aus der untergehenden römischen Welt dieses Europa gebildet hat. Es waren da geschichtliche Antriebe tätig, die sich wahrlich nicht als «Magenfragen» ergeben. Aber diese Antriebe haben in der neueren Zeit ihre Berechtigung verloren. Sie sind in der Wirklichkeit als geistige Antriebe seit langem nicht vorhanden. Aber die Institutionen, die aus ihnen entstanden sind, haben sich nach einem gewissen Trägheitsgesetze der Weltgeschichte erhalten. Man lebte in diesen Institutionen, nachdem sie eine leere Hülle geworden sind, in der einstmals Geist gewaltet hat. Und diese leeren Hüllen forderten für ihre Verwaltung Männer, die erfüllt waren von einer Lebensanschauung ohne Inhalt, ohne Ideen, ohne Glauben; Männer, die in Patriotismus machten mit der Überzeugung, daß er bei neunundneunzig Prozent der Bevölkerung eine «Magenfrage» sei. Die Wahrheit ist, daß aus geistigen Antrieben diejenigen Institutionen hervorgegangen sind, die jetzt ihrer Auflösung entgegengehen, weil sie ihren alten Geist verloren haben, weil diejenigen, denen zuletzt die Wege zur Führerschaft offenstanden, bei dem völligen Bankerott einer Lebensanschauung angekommen waren.

Eine Erkenntnis sollte aufleuchten aus der Erfahrung, die aus Veröffentlichungen Czerninscher Art hervorgehen kann. Diese Erkenntnis ist noch nicht da bei denen, welche, ohne an eine neue Geistigkeit zu appellieren, das zusammenstürzende Europa wieder aufbauen möchten. Die Trümmer des alten Bestandes gleichen den Teilen eines auseinandergefallenen Schrankes. Man steht vor dem Auseinandergefallenen. Man möchte durch allerlei Bänder und Riemen das Ganze wieder gestalten. Aber man bemerkt nicht, daß die Teile selbst morsch geworden sind.

Morsch gewordene Teile werden die Gebilde sein, in denen nach einem beliebten Schlagworte auch die kleinsten Völker zu ihrem Selbstbestimmungsrecht kommen sollen. Denn morsch müssen sie sein, weil die geistigen Antriebe, die einstmals die Lebensstoßkraft in sie ergossen haben, aus ihnen gewichen sind. Man gründe noch so viele «Staaten» und verbinde sie durch einen abstrakt gedachten Völkerbund: man wird nur morsch gewordene Teile eines ehemals berechtigten Ganzen zusammenfügen, das einst von einem Geiste getragen war, der nicht mehr tragfähig ist.

Die Einsicht in diesen weltgeschichtlichen Zusammenhang ist die notwendige Vorbedingung für eine Besserung der europäischen Zustände. Völkerstaaten können nicht gedeihen, wenn sie nicht auf der Erkenntnis aufgebaut sind, daß der Geist erstorben ist, aus dem die zu ihnen gehörigen Menschen ihr seelisches Leben gefristet haben.

Von dieser Erkenntnis möchten diejenigen ausgehen, welche in der «Dreigliederung des sozialen Organismus» den Rettungsweg aus den Wirren der Gegenwart sehen. Sie sind davon überzeugt, daß diese Dreigliederung mit der neuen Geistigkeit rechnet, die in den Völkern erst leben muß, bevor daran gedacht werden kann, ein neues Europa aufzubauen.

Die Czernine sind die Nachfolger derjenigen, die einst aus Ideen heraus Europa sein Gepräge gegeben haben. Aber die Czernine haben die alten Ideen aus ihren Überzeugungen, aus ihrem Glauben verloren und keine neuen sich erobert. Es fruchtet nicht, wenn die alten Czernine mit den alten Institutionen hinweggefegt werden, ohne daß an ihre Stelle Menschen treten, die einen Zusammenhang haben mit den geistigen Triebkräften der Weltgeschichte. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» und wiederholt in dieser Wochenschrift habe ich versucht, zu zeigen, wie mit Umstellung der politischen und sozialen Denkrichtung die neuen Czernine als die getreuen Schüler der alten sich offenbaren. Es fruchtet nicht, wenn an die Stelle der alten Czernine neue demokratisch und sozialistisch drapierte treten, die im Grunde aus den gleichen Seelenantrieben heraus eine neue Weit gestalten möchten, aus denen jener das morsch gewordene Österreich zusammenhalten wollte. Czernin wirkte in dem Österreich, von dem er jetzt (auf Seite 41 seines Buches) sagt: «Österreich-Ungarns Uhr war abgelaufen.» Er glaubt, «daß der Zerfall der Monarchie auch ohne diesen Krieg eingetreten wäre». So kann, nachdem er eine Wirksamkeit wie Czernin hinter sich hat, nur ein Mann sprechen, der ohne wahren inneren Anteil in dem Getriebe stand, in dem er eine hervorragende Rolle hatte. Solcher innerer Anteil hätte ihm nur aus einem Gefühl für die Triebkräfte der geschichtlichen Menschheitsentwickelung erstehen können. Aber er wirkte aus Institutionen heraus, die ihren Sinn, ihren Geist verloren hatten. Aber sie hatten ihn einmal. So muß ihn haben, was auf den Trümmern des alten Europa entstehen soll. Zu dieser Überzeugung muß sich eine genügend große Anzahl von Menschen aufraffen. Ohne diese Überzeugung können nur die Bestandstücke des Alten zu einem in sich unmöglichen europäischen Ganzen werden.

Was die Alten jetzt sagen, zeigt doch deutlich, wie die Neuen nicht denken dürfen. Die Czernine sind die Leute, in denen Monarchismus, Republikanismus, Demokratie, Patriotismus zur «Ideologie» geworden sind. Sie waren amtlich dazu verhalten, ihre Taten im Dienste der Monarchie zu tun und sie können jetzt schreiben (Seite 70 des Czerninschen Buches): «Allen Monarchen sollte gelehrt werden, daß ihr Volk sie gar nicht liebt, daß sie ihln im besten Falle ganz gleichgültig sind, daß es ihnen nicht aus Liebe nachläuft und sie nicht aus Liebe anstarrt, sondern aus Neugierde, daß es ihnen nicht aus Begeisterung zujubelt, sondern aus Unterhaltung und aus <Hetz> und genau so gern pfeifen würde, wie es jubelt - daß nicht der geringste Verlaß auf die <Treue der Untertanen> ist, daß sie auch gar nicht die Absicht haben, treu zu sein, sondern zufrieden sein wollen, daß sie die Monarchen dulden, solange sie entweder durch die eigene Zufriedenheit hierzu veranlaßt werden, oder, falls nicht, solange sie nicht die Kraft haben, sie davonzujagen. Das wäre die Wahrheit.» Aller Geist ist «Ideologie» geworden in einem Manne, der im Dienste eines Monarchen mit der Meinung handelt, dies ist die Wahrheit.

Man bedenke, was werden soll, wenn die öffentlichen Institutionen aus einer Lebensanschauung heraus gebildet würden, die schon aufgebaut ist auf der Meinung, alles Geistige sei «Ideologie». Bei den alten Czerninen hat sich diese Meinung halb unbewußt ausgebildet; sie sind in sie hineingeschlittert, wie, nach Tirpitz' Meinung, Deutschland in den Weltkrieg. Die neuen Czernine möchten Europa gleich vom Anfang an aus dieser Meinung heraus neu aufbauen. Es wird nichts helfen, daß viele von ihnen - gewiß nicht alle - dabei keinen schlechten Willen haben. Im weltgeschichtlichen Werden entscheidet nicht ein abstrakter guter Wille, der von den wirklichen Triebkräften des Lebens nichts ahnt, sondern die lebendige Einsicht in die Wirklichkeit.