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The Rudolf Steiner Archive

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Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Zerstörung und Aufbau

John Maynard Keynes hat eben in London ein Buch erstheinen lassen über die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Friedens (The economic consequences of the peace by John Maynard Keynes C. B. Fellow of King's ColIege, Cambridge. Macmillan and Co., London). Er gibt in der Vorrede an, daß er während des Krieges zeitweilig im britischen Schatzamt tätig und dessen amtlicher Bevollmächtigter bei der Friedenskonferenz bis zum 7. Juni1919 war. Er resignierte von diesem Amte, als ihm jede Hoffnung schwand, es könne aus dem, was unter dem Einflusse der auf dieser Konferenz maßgebenden Persönlichkeiten als «Friede» zustande kommt, eine gedeihliche Entwickelung des wirtschaftlichen Lebens in Europa sich ergeben. Er spricht als Engländer. Aber als ein solcher, der nüchtern sich die Frage vorlegte: Ist es möglich, daß aus dem Wollen Wilsons, Clemenceaus, Lloyd Georges etwas sich ergibt, das als wirtschaftliche Gestaltung Europas Lebensfähigkeit in sich trägt? Die Ausführungen seines Buches zeigen, daß er sich am 7. Juni1919 sagte: Wilson ist ein Mann, der, in lebensfremden, abstrakten Begriffen lebend, keinen maßgebenden Einfluß auf die Absichten Clemenceaus und Lloyd Georges haben kann; Clemenceau ist eine Persönlichkeit, die einzig und allein von dem leidenschaftlichen Willen beseelt ist, Europa einen Frieden zu diktieren, der mit Außerachtlassung der Entwickelung seit 1870 Frankreich in die Lage versetzt, sich als «Nation» in der Welt so zu fühlen, wie es sich vor 1870 hat fühlen wollen; Lloyd George ist schlau und mit Menschenkenntnis begabt, aber nur auf Augenblickserfolge bedacht. Und Keynes beantwortete sich die oben angeführte Frage mit dem Gedanken: Was unter dem Einflusse dieser drei Persönlichkeiten geschehen kann, muß die wirtschaftliche Zerstörung Europas herbeiführen. Und er trat von seinem Amte zurück. Ausblicke auf etwas, was Hoffnung gibt für einen Neuaufbau dieser wirtschaftlichen Verhältnisse, kann ich in seinem Buche nicht finden, wohl aber am Schlusse einen Satz, der sagt, daß ein Heil nur zu erwarten sei, wenn diejenigen Kräfte der Erkenntnis und Lebensanschauung in Bewegung gesetzt werden, welche die herrschenden Meinungen umgestalten. Man mißversteht Keynes wohl nicht, wenn man sagt, das Buch ist aus der Sorge und Angst entsprungen, England habe an einem Werke mitgearbeitet, aus dem die Zerstörung Europas in einem solchen Maße erfolgen müsse, daß es dabei England selbst böse ergehen könne.

Die Ausführungen Keynes' sind ein voller Beweis dafür, daß aus den politischen Anschauungen, die bis in die Gegenwart herrschend waren und die von den noch immer maßgebenden führenden Persönlichkeiten auch in das sogenannte «Friedenswerk» hineingetragen worden sind, nichts hervorgehen kann von dem, was die Zukunft der zivilisierten Menschheit braucht.

Die Angehörigen des deutschen Volkes erleben in dieser Weltenstunde in der denkbar bittersten Art, wozu es unter den herrschenden Antrieben der neueren Zivilisation gekommen ist. Man fordert von ihm etwas, an dessen Verwirklichung keinen Augenblick gedacht werden kann. Die es fordern, würden Berge von Haß auftürmen, gegen die die bisher errichteten winzige Hügel wären, wenn das deutsche Volk nach einem Machterfolge sich hätte einfallen lassen, dergleichen zu ersinnen. Dahin also ist man gelangt, daß man das offenbar ganz Unmögliche als eine Bedingung eines Friedenswerkes ansehen kann.

Leute, die sich nüchternen Blick bewahren wollen, sagen, die führenden Persönlichkeiten arbeiten an der Zerstörung Europas; diese führenden Persönlichkeiten ersinnen als ein Stück ihres «Friedenswerkes» etwas, aus dem Maßnahmen hergeleitet werden, welche zu der wirtschaftlichen Zerstörung die völlige seelische Selbstvernichtung des deutschen Volkes herbeiführen sollen. (An der Beurteilung des «Geistes», der in solchen Maßnahmen wirkt, ändert es nichts, wenn etwa später Ahänderungen erfolgen. Und auf diesen «Geist» kommt es an.)

Sind wir nicht an dem Punkte angelangt, an dem nun endlich von einer genügend großen Anzahl von Menschen eingesehen werden könnte, daß der Rettungsweg aus der Sackgasse Europas durch ganz andere Mittel gefunden werden muß, als diejenigen sind, die sich aus einer Fortsetzung der abgelebten öffentlichen Ideen ergeben? Wird man noch weiter glauben, daß man «Frieden» machen könne, wenn die öffentlichen Ansichten, die das zwanzigste Jahrhundert eingeleitet haben, für die Gestaltung der zivilisierten Welt maßgebend bleiben sollen? Man wird nichts «unterzeichnen» können, was einen «Frieden» einleitet, solange nicht aus einem neuen Geiste heraus anders geurteilt wird, als bei 9rdnung der öffentlichen Angelegenheiten bisher geurteilt worden ist. Eine Diskussion darüber, ob ein solcher neuer Geist notwendig sei, müßte unter Urteilsfähigen eigentlich angesichts dessen, was aus dem alten heraus geschieht, heute schon ausgeschlossen sein. Der Mut, die Entschlossenheit zu diesem neuen Geiste sollte in eine genügend große Anzahl von Seelen einziehen. Daraus müßte eine Aufbau-Arbeit erfolgen, welche dem zerstörenden Geiste wirksam entgegengerichtet sein kann. Der Einwand, daß das deutsche Volk allein mit solchem Geiste in seiner gegenwärtigen Lage gegenüber den mächtigen Siegern nicht aufkommen könne, müßte in seiner Bedeutungslosigkeit durchschaut werden. Denn was gut ist, wird von der ganzen Welt zuletzt doch entgegengenommen, wenn die Einsicht in die Ersprießlichkeit über die Vorurteile siegt.

Es ist in Wirklichkeit auch gar nicht dieser Einwand, der die Gegner einer neuen Geistigkeit zu ihrer Ablehnung derselben treibt. Es ist der Mangel an Mut, den sie sich nicht eingestehen und über den sie sich durch Scheinurteile hinwegtäuschen wollen. Es ist die geringe Meinung, die bei vielen von der Wirksamkeit des Geistigen in der neuesten Zeit heranerzogen worden ist und die jetzt die übelsten Früchte zeitigt. Die materialistische Utopie, die Wirklichkeit geworden ist, und die, als Utopie, in Zerstörungen sich ausleben muß, läßt das wirklich Praktische, das heute nur aus einer neuen Geistigkeit geholt werden kann, weiten Kreisen als «Utopie» erscheinen.

Für viele steht die Sache so, daß ihnen die äußeren Erfolge dieser neuesten Zeit ein Erleben gebracht haben, das ihnen nur allzu sympathisch war. Das verhindert sie, zu sehen, daß auf dem Grunde der Entwickelung zu diesen Erfolgen jener Ungeist war, der die Schrecknisse der letzten fünf Jahre bewirkt hat. Sie möchten aus diesen Schrecknissen heraus einen «Frieden» machen, der diese nur als Episode erscheinen läßt und die alten Zustände wieder an die Stelle des Chaos setzt. Doch zukunftverheißend kann nur ein Handeln aus dem Urteil heraus sein, das durchschaut, wie die äußeren Erfolge der neuesten Zeit auf einem zerstörten Boden der Ideenlosigkeit sich aufbauten, wie jede Rückkehr zu dem Alten ohne geistige Erneuerung auch die alten Samen für ein Wiederkehren der Schrecknisse neu säen müßte. Ohne die wirksame Hilfe dieses Urteils bei einer genügend großen Zahl von Menschen kommen wir aus Wirrnis und Chaos nicht heraus.