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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Die Führer und die Geführten

Wer ohne Voreingenommenheit die Ereignisse im heutigen öffentlichen Leben Mitteleuropas beobachtet, dem wird nicht entgehen können, wie die breiten Massen des Volkes in blindem Autoritätsglauben zu führenden Persönlichkeiten aufsehen, wie sie stets von neuem von diesen Persönlichkeiten irgend etwas erhoffen, auch wenn diese Hoffnungen in früheren Fällen sich als unbegründet erwiesen haben. - Diese Erscheinung erweist sich in einem so hohen Maße als charakteristisch für unsere Zeit, daß mit ihr rechnen muß, wer mit seinen Ideen in der Wirklichkeit stehen will. Sie bezeugt, daß die Massenstimmung darauf eingestellt ist, weniger auf die Ideen selbst hinzusehen, welche in den Bereich des öffentlichen Lebens getragen werden, als auf die Personen, von denen sie kommen.

Vorläufig wenden sich die Menschen, welche geführt sein wollen, noch an diejenigen, welche vor dem Zusammenbruche aus diesem oder jenem Grunde einen autoritativen Einfluß gehabt haben. Man hört aufmerksam darauf hin, was Graf Bernstorff zu sagen hat über die maßgebenden Tatsachen, die den Eintritt Amerikas in den Krieg bewirkt haben. Man tut dies, weil man glaubt, daß man auf ihn bei einer Neugestaltung der Dinge zählen könne. Was aber hat Graf Bernstorff aus seinen Erfahrungen zu sagen? Im Grunde etwas durchaus Negatives. Amerika wäre vom Eingreifen in den Krieg abgehalten worden, wenn Deutschland den uneingeschränkten Unterseebootkrieg nicht geführt hätte. Diese Meinung kann richtig sein. Fruchtbar für die Gegenwart kann sie aber nicht sein. Denn was in dieser Art geschehen ist, was getan worden ist, kann eben nicht mehr geändert werden. Getan aber sollte wenigstens jetzt werden, was in der Zeit des schreckensvollen Krieges nicht getan worden ist; den öffentlichen Angelegenheiten aus Ideen heraus eine zielvolle Richtung zu geben, das ist unterlassen worden; das sollte jetzt getan werden. Von Amerika aus kamen die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen. Wer mit den wirklichen Tatsachen rechnen kann, mußte wissen, daß aus diesen Schein-Ideen sich eine Neugestaltung der in die Zerstörung treibenden Zivilisation nicht ergeben könne. Die konnte nur erhofft werden, wenn aus den Reihen der führenden Persönlichkeiten den ScheinIdeen wirkliche entgegengestellt wurden. Es wurde damals versucht, solchen führenden Persönlichkeiten in Mitteleuropa diejenigen Ideen nahezubringen, die jetzt in der Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus leben. Bei der Einstellung der Massen auf die Autorität der führenden Persönlichkeiten hätte es damals, als die Kriegsereignisse noch unentschieden waren, viel bedeuten können, wenn auch nur wenige den Willen zur Prüfung dieser Ideen gehabt hätten und dazu den Mut, im Sinne des Prüfungsergebnisses sich zu verhalten. Haben doch die Schein-Ideen Wilsons die breitesten Kreise von Menschen wie eine neue Offenbarung ergriffen.

Der Gang der Ereignisse, die immer mehr der Auflösung entgegentreiben, macht es leicht, pessimistische Stimmungen zu rechtfertigen. Man sollte aber doch auch das Gute in der hier gekennzeichneten Tatsache, der Einstellung der Massen auf führende Persönlichkeiten, sehen. Vorläufig nimmt diese Einstellung noch eine falsche Richtung an. Sie wendet sich nach den alten Führern. Aber es kann nicht ausbleiben, daß eines Tages den Geführten klar wird, die Leute mit den alten Ideen, die nicht umlernen wollen, führen in den weiteren Niedergang. Dann wird die Zeit sein für die Leute mit den neuen Ideen. Aber es wird alles, was geschehen sollte, davon abhängen, daß diese Leute in einer genügend großen Anzahl vorhanden sind. Dahin muß gearbeitet werden. Die Möglichkeit muß erstrebt werden, daß das Vertrauen, das sich heute noch in den ausgetretenen Bahnen zu den alten Führern hinbewegt, sich den Trägern der neuen Ideen zuwende.

Es wird nichts fruchten, wenn man heute noch so oft wiederholt, Amerika wäre nicht in den Krieg eingetreten, wenn Deutschland sich nicht zu dem uneingeschränkten Unterseebootkrieg entschlossen hätte. Es wird dieses Geständnis keinen erheblichen Eindruck in Amerika machen. Denn dort glaubt man, in Mitteleuropa wird auch künftig nur das Machtprinzip wirken, wie es in dem Entschluß gewirkt hat, der einen so tiefen Eindruck gemacht hat. Während des Krieges fürchtete man in Amerika das monarchistische Ausleben des Machtprinzips. Jetzt fürchtet man das bolschewistisch geartete. Von jener Furcht hat man nicht verstanden, Amerika zu heilen. Man sollte nun doch jetzt sich energisch aufraffen, der Welt zu zeigen, daß in Mitteleuropa eine Ideenrichtung leben kann, die in der bolschewis tisch gefärbten Denkweise nur eine Fortsetzung des alten Machtwesens sieht, und daß diese Ideenrichtung mit dem neuen Machtprinzip nichts zu tun haben will. Solange man in der Welt nichts derartiges vernimmt, wird man die Meinung nicht aufgeben, man müsse Mitteleuropa so behandeln, daß es völlig ohnmächtig werde.

Während des Krieges konnten die führenden Persönlichkeiten sich nicht zu Ideen entschließen. Daher war es nicht möglich, den Ereignissen eine Richtung zu geben, die von der völligen Niederlage weggeführt hätte. Ideenmangel jetzt, nach der Niederlage, müßte die Tatsachen zum völligen Niedergange hinleiten. Nichts könnte es nützen, wenn aus der Flucht vor den Ideen heraus die leitenden Kreise sich abfänden mit der Oberherrschaft der Westmächte. Denn wenn dieses Abfinden ohne die Ideenarbeit erfolgte, dann hätte es zu seinem Schatten stets die ideenlose revolutionäre Machtpolitik der Massen. Die Welt müßte einem Zustand entgegengehen, in dem das regiert, was sich ergibt aus den gedankenlosen Instinkten und der Furcht vor diesen. Man sieht diesen Zustand bereits sehr deutlich heraufziehen. Man sollte die Augen vor der unermeßlichen Gefahr nicht verschließen, die in ihm liegt. Wird ihm nicht entgegengewirkt, so könnte nur der völlige Zusammenbruch der Zivilisation erfolgen. Pessimistische Stimmungen sind gerechtfertigt, solange man ihnen nicht den Willen entgegensetzen kann. Nicht von dieser oder jener «glücklichen Wendung» darf in den heutigen Verhältnissen etwas gehofft werden; allein auf den Willen, der aus den Ideen befruchtet ist, darf gebaut werden.