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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Schattenputsche und Ideenpraxis

Über den Wandel, der sich in allen öffentlichen Angelegenheiten seit 1914 vollzogen hat, erstreben heute noch wenig Menschen eine klare Einsicht. Man erlebt die Not der Zeit. Man hofft auf dieses und jenes. Aber man ist weit entfernt von einer wirklichen Besinnung auf das, was sich unter unseren Augen vollzieht. Man hat in Deutschland eine aufständische Bewegung hinter sich. Man fürchtet neue ähnliche Bewegungen. - Kann aber jemand in klarer Art sagen, was diejenigen eigentlich wollen, die hinter einer solchen Bewegung stehen? Man nennt sie eine solche der rechtsstehenden Parteien. Nun, vor noch nicht langer Zeit konnte man einen vernünftigen Sinn verbinden mit dem Worte «rechtsstehende Partei». Diese Partei hatte ein genau umschriebenes Programm. Ihm stand gegenüber das Programm der linksstehenden Parteien.

Man sollte sich doch endlich eingestehen, daß diese Programme seit 1914 völlig bedeutungslos geworden sind. Wer ehedem rechts gestanden hat, der kann heute von seinem Programm gegenüber dem Wandel der Tatsachen nicht mehr im Ernste sprechen. Hat er Wirklichkeitssinn in sich, so muß er einsehen, daß er das nicht mehr wollen kann, was den Inhalt seines Programms noch vor kurzer Zeit bildete. Ebensowenig kann es der Linksstehende. Er hat durch Jahrzehnte seine Zukunffshoffnungen in seinem Programm zum Ausdruck gebracht. Er muß jetzt sehen, daß sich über dieses Programm wohl politisch reden ließ, solange man damit einem andern opponieren wollte; daß es sich aber als Phrase erweist, da man aus ihm heraus eine soziale Wirklichkeit gestalten soll. Kämpfen denn heute noch in Wirklichkeit Parteien gegeneinander im Sinne ihrer alten Programme? Nein. Die Programme sind zur Phrase geworden und nur die Personen sind noch geblieben, die ehedem an diesen Programmen etwas gehabt haben. Es gibt eigentlich keine «rechtsstehenden» und keine «linksstehenden» Parteien mehr, sondern nur noch ihre Schatten. Denn Parteien sind ohne Parteiprogramme nichtig.

Die Personen, die sich vor noch kurzer Zeit unter dem sachlichen Inhalt einer bestimmten Willensrichtung vereinigt gehalten haben, stehen aus alter Gewohnheit noch zusammen. Sie bilden Gruppen. Aber ihr Zusammenhalt ist im Grunde nur noch ein persönlicher. Der ehemals Reaktionär war, hat den Inhalt seines Wollens verloren, aber er hält noch zusammen mit denen, die auch Reaktionäre waren. Er hofft, daß er mit ihnen zusammen zur Herrschaft gelangen werde. Der vor kurzer Zeit Marxist war, hält an seinem Marxismus noch fest, weil er doch von irgend etwas reden muß, um sich auszusprechen. Einen vernünftigen Sinn zieht er aus seinem Marxismus nicht. Aber er findet sich, mehr oder weniger radikal, mit andern zusammen, die auch Marxisten waren; er bildet mit ihnen Gruppen, die bloß zusammengehalten werden durch die persönliche Verwandtschaft, die aus ihrem früheren Marxismus stammt. Auch die Personen dieser Gruppen hoffen, daß sie mit Leuten, die solche persönliche Verwandtschaft mit ihnen haben, zur Herrschaft gelangen werden.

Den hiermit gekennzeichneten Charakter tragen heute die Kämpfe des öffentlichen Lebens. Auch die Urteile, die sich in diesen Kämpfen geltend machen, tragen diesen Charakter. Gewisse Personen geraten in Aufregung, wenn sie über den «militaristischen Putsch» sprechen. Sie merken gar nicht, wieviel Nebuloses da in ihre Vorstellungen einfließt. Im Grunde wüßten die Putschisten, wenn sie zur Herrschaft gelangten, heute so wenig, was sie tun sollen, wie es ihre Gegner in dem gleichen Fall wissen. Man kann sich eigentlich gar nicht vor irgendeinem bestimmten Wollen einer solchen Gruppe fürchten; man kann nur eine unbestimmte Furcht vor den Personen haben, die ehemals ein bestimmtes Wollen hatten.

Richtig betrachtet liegt die Sache wesentlich anders, als sie gegenwärtig zumeist betrachtet wird. Die Personen, die ehemals die Herrschaft geübt haben, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie aus einer Willensrichtung heraus gehandelt haben, die durch die Schreckensjahre, die Europa hinter sich hat, als eine unmögliche sich dargestellt hat. Die andern Personen, die sie ablösen wollen, haben aus den Lebenslagen heraus, in denen sie bisher waren, Ideen noch nicht gefunden, die in der Verwirklichung mögliche soziale Verhältnisse liefern könnten.

Personengruppen, zusammengehalten durch alte Gewohnheiten, durch Sympathien und Antipathien, kämpfen heute um die Macht. Beiden gemeinsam ist, daß sie mit der Macht nichts anfangen können, wenn sie sie haben, weil ihnen eine den Tatsachen gewachsene Zielsetzung fehlt.

Diese Sachlage nimmt immer weitere Dimensionen an. Die öffentlichen Kämpfe verlieren immer mehr ihren geistigen Inhalt. Demokratie, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, sind Worte, die ehemals einen Inhalt gehabt haben, die ihn aber verloren haben. Das Leben aber wird unter diesen Umständen richtungslos, barbarisiert sich.

Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus trägt dieser Sachlage Rechnung. Sie spricht von Impulsen, die aus dem Wesen der Menschheit selbst stammen; die aus den Tiefen der Menschenwesenheit herauf sich zur sozialen Wirklichkeit gestalten wollen. Sie redet wieder von einer Realität, von einer solchen, die in den Tatsachen des gegenwärtigen Lebens sich ganz deutlich offenbart. Für diese Idee ist es durchsichtig, daß die alten Parteiprogramme ihre Inhalte verloren haben und daß von ihnen nur noch die Erinnerungen an sie in den Personen übrig geblieben sind, die sich früher ihnen verschrieben hatten. «Rechts- und linksstehend» bedeutet heute keine Wirklichkeit; eine solche sucht die Idee von der Dreigliederung. Man kann für sie Verständnis anstreben, gleichgültig, ob man ein wesenloses «Rechtsstehen» oder ein wesenloses «Linksstehen» aus alter Gewohnheit noch im Leibe mit sich herumträgt wie einen toten Fremdkörper in einem lebendigen Organismus. Mit alten Gewohnheiten, mit den Schatten der Vergangenheit müssen kämpfen die Träger der Dreigliederungs-Idee. Sie möchten inmitten der immer mehr zum Streben nach persönlicher Macht ausartenden öffentlichen Instinkthandlungen die von der Idee getragene Willensrichtung setzen. Sie möchten dem Leben die Richtung geben nicht im Sinne alter Schattenphrasen, sondern im Sinne der von der Zeit geforderten Wirklichkeit.