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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus

Unter den bedeutsamen Fragen, die in der Gegenwart, aus der Weltkriegskatastrophe heraus, die Umwandlung in ganz neue Formen durchmachen, ist die der Demokratie. Daß Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muß, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben. Die Weltkriegskatastrophe hat die Unmöglichkeit einer Weiterentwickelung alles dessen erwiesen, was der Demokratie widerstrebt. Alles Anti-Demokratische hat sich selbst in die Vernichtung hineingeführt. Für diejenigen, welche in irgendeiner Form an Wiederaufrichtung eines solchen Anti-Demokratischen denken, wird es sich nur darum handeln können, daß ihrer Einsicht das als Beweis aufgeht, was die Wirklichkeit mit Strömen von Blut bewiesen hat.

Aber die Frage, wie ist Demokratie zu verwirklichen, fordert gegenwärtig eine Stellungnahme heraus, die in verflossenen Zeiten nicht in derselben Art da sein konnte. Bevor die soziale Bewegung in das geschichtliche Stadium eingetreten war, in dem sie heute ist, konnte man über Demokratie anders denken, als man es jetzt muß. Die Frage wird immer drängender: Wie kann die soziale Bewegung dem demokratischen Leben einverleibt werden?

Es kann sich gegenwärtig wahrlich nicht darum handeln, in unbestimmten politischen Forderungen sich auszuleben und aus dem heraus, was einseitige Lebensinteressen dieser oder jener Menschengruppen als solche Forderungen in ganz begreiflicher Weise erheben, politische Ideale zu formen. Ein wirkliches Verständnis des sozialen Organismus wird mit jedem Tage notwendiger.

Es waren nicht immer bloß die Knechte des Kapitalismus, in deren Seele die Sorge sich einnistete, wenn sie daran dachten, was werden soll, wenn die soziale Welle das neuzeitliche Leben überfluten werde. Neben den allerdings in der Mehrzahl sich geltend machenden Egoisten waren vereinzelte ehrliche Persönlichkeiten, die in der Form, welche diese Welle annahm, gerade eine Gefahr für den wahren Demokratismus sahen. Wie soll noch eine wahrhaftige Entfaltung der menschlichen Individualitäten möglich sein, wenn alles geistige Leben auch in der Lebenspraxis ein ideologischer Überbau des Wirtschafslebens wird, wie es ein solcher im Denken derjenigen geworden ist, welche die soziale Gestaltung des Lebens von der Durchdringung aller Menschen mit materialistischer Geschichtsauffassung abhängig machen? Denn ohne die freie Entfaltung der menschlichen Individualitäten möglich zu machen, wird eine sozialistische Lebensgestaltung die Kultur nicht herausholen aus ihrem kapitalistischen Gefängnis, sondern sie zum Absterben ohne die Aussicht auf Neubelebung bringen.

Wer die Forderungen, welche in der sozialen Bewegung liegen, nicht nach den Interessen beurteilt, die sich aus seiner bisherigen Lebenslage ergeben, sondern wer vermag, in ihnen eine geschichtliche Notwendigkeit zu sehen, der nicht zu entgehen ist, vor den stellt sich mit größtem Ernste die Frage hin: Wie können diese Forderungen erfüllt werden, ohne zur Unterdrückung der individuellen menschlichen Begabungen zu führen, auf deren freier Entfaltung auch in der Zukunft alle Lebensentwickelung beruhen muß? In einer auf kapitalistische Wirtschafsformen gegründeten gesellschaftlichen Lebensordnung war Demokratisierung etwas anderes, als sie wird sein müssen in einer von sozialen Impulsen durchtränkten.

Man wird das Bedürfnis immer drängender empfinden müssen, für das menschliche Geistesleben Entwickelungsmöglichkeiten zu suchen, die sich durchsetzen können neben den sozialen Impulsen. Man wird sich nicht durch das Dogma hypnotisieren lassen dürfen: Sozialismus im Wirtschaftsleben wird als Überbau von selbst ein gesundes Geistesleben hervorbringen. Einem solchen Dogma kann nur zustimmen, wer nicht begreift, daß ein auf sich selbst gestelltes Wirtschaftsleben ohne fortdauernde Befruchtung durch ein auf die freien Menschenindividualitäten begründetes Geistesleben nicht in fortschreitender Entwickelung erhalten werden kann, sondern in sich erstarren muß. Was aus der menschlichen Individualität heraus in das soziale Leben befruchtend eingreifen soll, muß aus der Menschenwesenheit durch Impulse herausgeholt werden, welche aus dem Wirtschaftsleben heraus sich nicht ergeben können. Die Wirtschaft bildet die Grundlage des Menschenlebens; aber das Menschenwesen ragt über das Wirtschaftliche hinaus. Die Kräfte des Wirtschaftslebens sind in engere Grenzen eingeschlossen als die Entfaltung der Gesamt-Menschennatur. So selbstverständlich auch dieses ist für das Begreifen des einzelnen Menschen, es ist diese Selbstverständlichkeit in dem neuzeitlichen Leben nicht verwirklicht; und es kommt immer mehr eine Denkungsart an die Oberfläche der öffentlichen Meinung und vor allem des öffentlichen Tuns, die dieser Selbstverständlichkeit widerstrebt. Die Menschen leben sie in Daseinsbedingungen ein und fordern Daseinsbedingungen, die, wenn sie sie wahrhaft überdenken wollten, ihnen unmöglich erscheinen müßten. Sie helfen sich dadurch, daß sie sich über den Lebenswiderspruch hinwegbetäuben, daß sie vermeiden, ihn sich zum Bewußtsein zu bringen.

Eine bedeutungsvolle Lebenstatsache enthüllt sich aus diesem Widerspruch heraus. Die Urteils- und Empfindungskräfte, die in der menschlichen Persönlichkeit veranlagt sind und die in einer gesunden Pflege des öffentlichen Geisteslebens zur Entwickelung kommen müßten: sie finden nicht den Weg in die sozialen Einrichtungen, in denen der moderne Mensch lebt. Diese Einrichtungen erdrücken die freie Entwickelung des individuellen Menschen.

Von zwei Seiten her macht sich diese Unterdrückung geltend. Von der Seite des Staates und von derjenigen des Wirtschaftslebens. Und der Mensch stürmt bewußt oder unbewußt gegen die Bedrückung an. In diesem Anstürmen liegt die wirkliche Ursache der sozialen Forderungen unserer Gegenwart. Alles andere, das in diesen Forderungen lebt, ist an die Oberfläche getriebene Welle, die verbirgt, was in den Untergründen der Menschennaturen waltet.

Der Ansturm gegen die Bedrückung des Staates spricht sich aus in dem Streben nach wahrer Demokratie; der Ansturm gegen die Bedrückung des Wirtschaftslebens in dem anderen Streben, nach sozialer Gliederung des Wirtschafslebens.

Für das, was seit drei bis vier Jahrhunderten zum modernen Staate geworden ist, fordert die Menschheit die Demokratie. Soll diese Demokratie wahrhaftige Tatsache werden, dann muß sie auf diejenigen Kräfte der Menschennatur aufgebaut sein, die sich wirklich demokratisch ausleben können. Sollen aus Staaten Demokratien werden, dann müssen diese Einrichtungen sein, in denen die Menschen zur Geltung bringen können, was das Verhältnis eines jeden erwachsenen, mündig gewordenen Menschen zu jedem anderen regelt. Und jeder erwachsene, mündig gewordene Mensch muß gleichen Anteil haben an dieser Regelung. Verwaltung und Volksvertretung müssen so gehalten sein, daß sich in ihnen auslebt, was aus dem Bewußtsein eines Menschen sich ergibt einfach dadurch, daß er ein seelisch gesunder, mündiger Mensch ist.

Kann eine solche Volksvertretung und eine solche Verwaltung auch das Geistesleben regeln, das die volle Entfaltung der individuellen menschlichen Anlagen bewirken muß, wenn diese Entfaltung nicht zum Unheil des sozialen Lebens verkümmern und unterbunden werden soll? Diese Entfaltung beruht darauf, daß sie auf einem Boden gepflegt wird, auf dem nur so gehandelt wird, wie es sich aus den Impulsen des Geisteslebens heraus selbst ergibt. Spezifische Anlage wird nur von spezifisch entwickelter Anlage wirklich erkannt und richtig gepflegt. Und sie wird nur richtig auf den Weg in das Leben hineingewiesen, wenn der Weisende aus den Erfahrungen heraus handelt, die ihm die Erfahrung aus dem Lebenskreise heraus gibt, in den er weisen soll. Für die rechte Pflege eines sozial gesunden Gemeinschaftslebens sind Persönlichkeiten notwendig, welche einzelne Zweige des Lebens durch eine in diesen ausgebildete Erfahrung genau kennen, und die in sich den Sinn dafür entwickeln, innerhalb des Geisteslebens ihre Erfahrung zur Offenbarung zu bringen. Man denke an den sozial bedeutungsvollsten Zweig des Geisteslebens: an die Schule auf jeder Stufe. Kann denn die Entfaltung der individuellen Menschenkräfte und ihre Vorbereitung für das Leben auf einem bestimmten Gebiete gedeihlich nicht nur von einer Persönlichkeit besorgt werden, die individuelle Erfahrung auf diesem Gebiete hat? Und kann jemals etwas sozial Heilsames entstehen, wenn für die Stellung einer solchen Persönlichkeit an ihren Platz etwas anderes maßgebend ist als das Walten ihrer individuellen Fähigkeiten selbst? Was in der Demokratie sich auslebt, kann nur auf dasjenige sich beziehen, was jeder mündige Mensch mit jedem mündigen Menschen gemein hat. Es gibt keine Möglichkeit, durch dasjenige, was in der Demokratie sich ausleben kann, eine Regelung darüber zu finden, was ganz im Kreise des individuellen Menschenwesens liegt. Will man ehrlich und wahr die Demokratie durchführen, so muß man von ihrem Boden ausschließen alles, was in diesen Kreis gehört. Auf demokratischem Boden und innerhalb der Verwaltungseinrichtungen, die auf diesem Boden auswachsen können, kann kein Impuls entstehen, der richtunggebend sein darf für eine menschliche Betätigung, die frei aus der individuellen Begabung des Menschen fließen soll. Die Demokratie muß sich für unfähig zu einem solchen Impulse erklären gerade dann, wenn sie wahre Demokratie sein will. Will man aus dem bisherigen Staate eine wahre Demokratie herausgestalten, so muß man aus dieser alles dasjenige herausnehmen und es seiner vollen Selbstverwaltung überliefern, über das nur die individuelle Entwickelung des besonderen Menschen die rechten Impulse entwickeln kann, und das keine Regelung erfahren kann durch dasjenige, was in jedem Menschen einfach dadurch lebt, daß er ein mündiger Mensch geworden ist.

Die sozialen Verhältnisse, über die jeder mündig gewordene Mensch urteilsfähig ist, sind die Rechtsbeziehungen von Mensch zu Mensch. Es sind dies zugleich diejenigen Lebensverhältnisse, die ihren sozialen Charakter nur dadurch erhalten können, daß sie in demokratischen Einrichtungen sich als ein Gesamtwille aus dem wirklichen Zusammenwirken der gleichen menschlichen Einzelwillen ergeben. Bei allem, was auf dem Boden der individuellen menschlichen Fähigkeiten erwachsen soll, kann nicht ein Gesamtwille in den Einrichtungen zum Ausdruck kommen; sondern diese Einrichtungen müssen solche sein, in denen die Einzelwillen sich voll zur Geltung bringen können. Der einzelne Mensch muß gewissermaßen wie eine Naturgrundlage sich verhalten können. Man kann nicht über eine Landfläche hin aus Bedürfnissen heraus, die abgesehen von den einzelnen Teilen dieser Landfläche gefaßt sind, diese bewirtschaften; man muß aus dem Wesen der einzelnen Teile kennenlernen, was sie besonders hervorbringen können. So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wirken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellen menschlichen Fähigkeiten.

Es gibt keinen anderen Weg, die Früchte dieser individuellen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, als ihre Selbstverwaltung. Innerhalb dieser Selbstverwaltung kann allein der Zustand eintreten, durch den nicht ein die Fruchtbarkeit der Einzelmenschen für das soziale Leben unterdrückender Gesamtwille entsteht, sondern durch den in das Gesamtleben die menschlichen Einzelleistungen zu dessen Wohle aufgenommen werden.

Innerhalb einer solchen Selbstverwaltung werden sich aus dem Geistesleben heraus die Gesichtspunkte ergeben, durch welche die rechten Menschen an die rechten Stellen gebracht werden und durch welche an die Stelle von Gesetz und Verordnung das unmittelbar lebendige Vertrauen gesetzt werden kann. Den an der Volkserziehung beteiligten Personen werden solche Gesetze und Verordnungen keine Erziehungsziele weisen; dafür werden sie zu Beobachtern des Lebens werden und diesem abzulauschen suchen, was sie heranzubilden haben. Es wird die Tendenz entstehen können, im praktischen Leben stehende Personen, die in irgendeinem Zweige des Wirtschafts- oder Rechtslebens durch Jahre Erfahrung gesammelt haben, in die geistige Organisation aufzunehmen. In dieser werden sie die Menschen finden, mit denen, im lebendigen Verkehre, sie das praktisch Erfahrene in erzieherisch Fruchtbares werden umgestalten können. Andererseits werden in der geistigen Verwaltung stehende Personen den Antrieb empfinden, aus dieser Verwaltung zeitweise hinüberzutreten in das praktische Leben, um in diesem das Errungene lebenswirklich zu verwerten.

Eine Gliederung des sozialen Organismus in der Art, daß in ihm ein sich selbst verwaltendes Geistesleben zur Entfaltung kommt, wird nicht die lebendige Einheit dieses Organismus zerstören, sondern, im Gegenteil, erst recht begründen. Gegliedert wird nur die Verwaltung; in dem Leben des Menschen wird die Einheit zur Entwickelung kommen können. Der Mensch wird nicht mehr nötig haben, in einem erstarrten Stand von dem Leben sich abzuschließen und einzukapseln. Ein Hinüber- und Herübergehen aus dem geistigen in die anderen Glieder des sozialen Organismus wird stattfinden können. Denn in dem Leben, das sich als Tradition und öffentliche Meinung in dem Geistesorganismus ausgestaltet hat, wird etwas weit Fruchtbareres liegen als in dem starren System, das sich herausbildet, wenn sich Menschen als Stand abgliedern. Die Gliederung des sozialen Organismus sollte in der Zukunft in dem Sachlichen liegen; und dieses Sachliche sollte durch seine Selbstverwaltung die Kraft entwickeln, die auch dann wirkt, wenn es nicht den Menschen tyrannisch in seine Netze einspannt.

Es sollte nicht bezweifelt werden, daß ein soziales Wirtschafts- und Rechtsleben nur entstehen kann, wenn die Menschen sozial denken und empfinden können. Daß das bisherige mit dem Rechtsstaate verschmolzene Geistesleben dies nicht kann, sollte eine unbefangene Erfahrung der gegenwärtigen Zustände zeigen. Wer gegenwärtig aus dem vollen Leben heraus urteilt, wird schwer verstanden, denn er stößt auf die Seelenverfassung von Menschen, in denen nicht Saiten anklingen, die aus der Lebenserfahrung in Denk- und Empfindungsart gespannt sind, sondern auf solche, denen die Staatserziehung eine abstrakte, lebensfremde Art gegeben hat. Diejenigen Menschen, die sich für die am meisten praktischen halten, sind die am wenigsten praktischen. Sie haben sich in dem engen Lebensgebiete, in das sie sich eingesponnen haben, eine gewisse Routine erworben. Diese nennen sie ihren praktischen Sinn und sehen, aus dieser Seelenverfassung heraus, auf jeden mit Hochmut als einen unpraktischen Menschen, der in diese Routine sich nicht eingepfercht hat. In ihrem ganzen übrigen Denken, Empfinden und Wollen herrscht aber ein lebensfremdes, von abstrakten Richtungskräften getragenes Wesen. Ein solches Wesen wird großgezogen durch die im Staate verankerte Erziehung, in die nicht Lebenserfahrung einfließen kann, sondern nur das abstrakte Denken und Empfinden, die ohne spezielle Erfahrung auf irgendeinem Gebiete jedem mündig gewordenen Menschen durch die menschliche Natur eigen sein können, wenn sie einen Boden haben, auf dem nur sie wirksam sind. In dieser Tatsache liegt begründet, daß von vielen Seiten den sozialen Forderungen der Gegenwart ein solch geringes Verständnis entgegengebracht wird. Schon die Ausgangspunkte der sozialen Empfindungen zeigen sich den Forderungen des sozialen Organismus nicht gewachsen. Man denkt: viele Menschen fordern eine soziale Neugestaltung des Lebens. Man komme ihnen entgegen, meinen manche, und schaffe Gesetze und Verordnungen. Doch das soziale Neugestalten kann sich so nicht vollziehen. Die sozialen Forderungen der Gegenwart sind solche, die nicht in einer zeitweiligen Gewaltumwälzung ihre Erfüllung finden können. Die « soziale Frage » ist an die Oberfläche der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit getreten, und sie wird von jetzt an immer da sein. Und sie wird eine Denk- und Empfindungsrichtung fordern, welche die volle Anpassung des Geisteswesens an das soziale Gesamtleben und die fortwährende Befruchtung dieses Geisteswesens aus den Impulsen des Gesamtlebens zur Voraussetzung haben werden. Man wird nicht sozialisieren können, damit dann sozialisiert sei, man wird immer von Neuem sozialisieren müssen; oder auch: man wird das Gesellschaftsleben im Zustande des Sozialisierens erhalten müssen.

Aus den im bisherigen Geisteswesen, insbesondere im Erziehungs- und Schulwesen begründeten Richtungen ist das unsoziale, ja oft antisoziale Empfinden derjenigen entstanden, die gegenwärtig sich gerade als sozialistisch Denkende gebärden. Das lebensfremde Geistesleben hat eine verkehrte Anschauung über das Geistesleben selbst hervorgerufen. Weite Kreise denken heute, die wahren Impulse des Menschenlebens liegen in den Wirtschaftsformen; auch das Geistesleben sei bloß eine Art aus dem Wirtschafsleben sich ergebender « Überbau », eine Ideologie, die aus der Art des Wirtschaftens aufsteigt. Zu einer solchen Anschauung bekennt sich mehr oder weniger unbewußt oder bewußt fast das gesamte, die gegenwärtigen Zeitforderungen tragende Proletariat. Dieses Proletariat hat sie in einem Zeitalter entwickelt, in dem das Geisteswesen darauf verzichtet hat, sich Richtung und Ziel aus sich selbst heraus zu geben, in dem die äußere, soziale Ausgestaltung dieses Geisteswesens zu einem Ergebnis des Staats- und Wirtschaftslebens geworden ist. Dieses Geistesleben hat sich in einen Zustand gebracht, aus dem es nur durch seine Selbstverwaltung herauskommen kann. Das Proletariat, das durch Technik und Kapitalsystem ganz in das Wirtschaftsleben eingespannt ist, glaubt nun: eine bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens werde auch die notwendigen neuen Rechts- und Geistesformen « von selbst » erbringen. Dieses Proletariat hat erfahren müssen, daß das neuzeitliche Geistesleben zu einem Anhängsel des Staats- und Wirtschaftslebens geworden ist, und hat sich die Meinung gebildet: Jedes Geistesleben sei ein solches Anhängsel. Es würde, wenn es diese Anschauung in einem sozialen Organismus verwirklicht sähe, zu seiner allerbittersten Enttäuschung wahrnehmen müssen, daß ein Geistesleben, das aus einer sozialen Gestaltung hervorgegangen ist, die nur auf wirtschaftlicher Grundlage ruht, zu noch kläglicheren Zuständen geführt hätte, als die gegenwärtigen sind. Das Proletariat wird sich durchringen müssen zu der Erkenntnis, daß die gegenwärtige Lage nicht gebessert werden kann durch die bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens, sondern durch die Loslösung des Geisteswesens und Rechtswesens von dem Wirtschaftsleben in dem dreigliedrigen gesunden sozialen Organismus. Erst dann wird die proletarische Bewegung auf dem rechten Boden stehen, wenn sie nicht mehr sagen wird: Das neuere Wirtschaftsleben hat ein Geistes- und Rechtsleben erzeugt, die unsozial wirken; man muß ein anderes Wirtschaftsleben herbeiführen, das dann auch ein anderes Geistes- und Rechtswesen aus sich hervorbringen wird; sondern wenn es sagen wird: Das neuere Kulturleben hat zu einem Wirtschaftssystem geführt, das nur umgewandelt werden kann, wenn das neue das Rechts- und Geistesleben von sich loslöst und ihrer Selbstverwaltung übergibt, um auf diese Art auch zu seiner Selbstverwaltung zu kommen. Denn dieses neuere Kulturleben hat zur Abhängigkeit alles Nicht-Wirtschaftlichen vom Wirtschaftlichen geführt: in der Aufhebung dieser Abhängigkeit, nicht in einer noch größeren Abhängigkeit, liegt die Gesundung. Die Einspannung des modernen Proletariats in das bloße Wirtschaftsleben hat zu dem Glauben geführt, daß in einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens allein die Gesundung liegt. Der Tag, der das Proletariat von diesem Aberglauben befreien wird, der seine Instinkte erkennen lassen wird, daß das Geistes- und Rechtsleben nicht eine aus dem Wirtschaftswesen geborene Ideologie sein darf, sondern daß das Unheilvolle der neueren Zeit eben darin liegt, daß eine solche Ideologie geboren worden ist: dieser Tag wird die Morgenröte bringen, auf die so viele Menschen warten.

Ein Wirtschaftsleben, an dem der Staat nicht mitwirtschaftet, wird hervorgehen können aus den unbeeinflußten wirtschaftlichen Erfahrungen auf der einen Seite und aus den besonderen wirtschaftlichen Untergründen, auf denen das wirtschaftliche Leben von Personen und Personengruppen ruht. Wirtschaftliche Erfahrung kann nicht auf dem Boden sich ausleben, auf dem sich offenbaren soll, was in jedem mündig gewordenen Menschen liegt, sondern nur auf dem Boden des aus sich selbst sich gestaltenden Wirtschaftskörpers. Und die Geltung, die ein Mensch dadurch hat, daß er in einem besonderen Zweige des Wirtschaftslebens drinnensteht, kann sich nicht äußern in der Struktur des Staatslebens, in der sich verwirklichen soll, was für alle Menschen gleich gilt, sondern nur in der Wirkung, die von diesem Menschen ausgeht auf andere Zweige des Wirtschaftslebens. Die Menschen, die einem Wirtschaftszweig angehören, werden sich in sich zusammenschließen müssen; sie werden sich zusammengliedern müssen zu Assoziationen mit Menschen aus anderen Wirtschaftszweigen. Konsumtions- und Produktionsinteressen werden in dem lebendigen Verkehr solcher Assoziationen und Genossenschaften sich organisieren können. Im Wirtschaftskreislauf werden dadurch nur wirtschaftliche Impulse ihre Verwirklichung finden können.

Der Handarbeiter wird dem Geistesarbeiter so gegenüberstehen, daß zwischen ihnen nur wirtschaftliche Fragen werden in Betracht kommen, weil das Rechtsverhältnis auf dem abgesonderten Rechtsboden seine Regelung findet. Ein freier Gesellschafter wird der Handarbeiter dem geistigen Leiter seines Betriebes sein können, weil nur die aus der Wirtschaftsgrundlage heraus sich ergebende Aufteilung des gemeinsam Erarbeiteten wird in Betracht kommen können und nicht ein wirtschaftlicher Zwang, der durch die wirtschaftlich bessere Lage des Arbeitsleiters hervorgerufen wird. Die assoziative Gliederung des Wirtschaftskörpers wird den Handarbeiter in Zusammenhänge des Lebens bringen, welche in sein Vertragsverhältnis zum geistigen Arbeitsleiter ganz andere Gesichtspunkte bringen werden als seine gegenwärtige Stellung, die ihn nicht zum Teilnehmer des Produktionsergebnisses, sondern zum Kämpfer gegen die Interessen seines Unternehmers macht. Der Handarbeiter wird aus den Erkenntnissen, die er gewinnt aus seiner wirtschaftlichen Lage als Konsument, das gleiche Interesse, nicht das entgegengesetzte, gewinnen an seinem Produktionszweige wie sein geistiger Leiter. Das kann sich nicht ergeben in einem Wirtschaftsleben, dessen Impuls die Rentabilität des Kapitalbesitzes ist, sondern allein in einem solchen, das die Werte der Erzeugnisse aus den sich ausgleichenden Konsum- und Produktionsverhältnissen der sozialen Gesamtheit regeln kann. Eine solche soziale Gemeinschaft ist aber nur möglich, wenn die speziellen Berufs-, Konsum- und Produktionsinteressen ihren Ausdruck finden in Assoziationen, die aus den einzelnen Zweigen des Wirtschaftslebens selbst hervorgehen und die in der Gesamtgliederung des Wirtschafskörpers sich miteinander verständigen. Aus den speziellen Interessen der einzelnen Wirtschaftszweige werden sich die Einzelassoziationen ergeben; in dem Zusammenschluß dieser Assoziationen und in dem Zentralverwaltungskörper, der sich aus den Wirtschaftsinteressen herausgliedern wird, werden die sozialen Impulse der Güterwertbildung liegen können. Man kann einen einzelnen Betrieb nicht sozialisieren, denn die Sozialisierung kann nur darin liegen, daß die Güterwertbildung, mit der ein einzelner Betrieb in dem Gesamtwirtschaftsleben drinnensteht, nicht unsozial wirkt. Durch eine in dieser Richtung liegende wahre Sozialisierung wird dem Kapitalsystem völlig diejenige Grundlage entzogen, durch die es als Privatbesitz schädlich wirkt. (Die besondere Gestaltung des Kapitalwesens in dem gesunden dreigliederigen Organismus habe ich in meinem Buche « Die Kernpunkte der sozialen Frage » geschildert.) Es sollte doch klar sein, daß man das Kapital nicht « abschaffen » kann, insofern es in nichts anderem besteht als in den für die soziale Gemeinschaft arbeitenden Produktionsmitteln. Schädlich wirkt nicht das Kapital, sondern seine Verwaltung aus den Privatbesitzverhältnissen heraus, wenn diese Privatbesitzverhältnisse die soziale Struktur des Wirtschaftskörpers von sich abhängig machen können. Geht diese Struktur auf die gekennzeichnete Art aus dem wirtschaftlichen Assoziationswesen hervor, dann wird dem Kapital jede Möglichkeit entzogen, antisozial zu wirken. Eine solche soziale Struktur wird stets verhindern, daß der Kapitalbesitz sich loslöst von dem Verwalten der Produktionsmittel und zum Strebensimpuls derer wird, die nicht durch Anteilnahme an dem Wirtschaftsprozeß ihr Leben gestalten wollen, sondern ohne Anteilnahme aus diesem heraus. Man kann allerdings einwenden, daß für diejenigen, die am Wirtschaftsprozeß mitarbeiten, nichts herauskommen würde, wenn man die Erwerbungen der Nichtarbeitenden « aufteilen » würde. Das besticht, weil es richtig ist, und es verhüllt doch die Wahrheit, weil seine Richtigkeit für die Gestaltung des sozialen Organismus keine Bedeutung hat. Denn nicht darauf beruht die Schädlichkeit der nichtarbeitenden Rentenbesitzer, daß sie ein verhältnismäßig Weniges den Arbeitenden entziehen, sondern darauf, daß sie durch die Möglichkeit, arbeitsloses Einkommen zu erzielen, dem ganzen Wirtschaftskörper ein Gepräge geben, das antisozial wirkt. Derjenige ganze Wirtschaftskörper ist etwas anderes, in dem arbeitsloses Einkommen unmöglich ist, als der andere, in dem ein solches erzeugt werden kann, wie ein menschlicher Organismus etwas anderes ist, bei dem sich an keiner Stelle ein Geschwür bilden kann, als ein solcher, in dem sich das Ungesunde in einer Geschwürbildung an einer Stelle entlädt.

Ein gesunder sozialer Organismus macht aus den gekennzeichneten sozialen Assoziationsbildungen heraus allerdings Einrichtungen notwendig, vor denen die gegenwärtigen wirtschaftlichen Vorurteile noch zurückschrecken. In einem gesunden sozialen Organismus wird eine Summe von Produktionsmitteln dasjenige erschöpft haben, was sie kosten darf, wenn sie für den Betrieb fertiggestellt ist. Sie wird dann verwaltet werden können von dem Hersteller nur so lange, als er mit seinen individuellen Fähigkeiten wird dabei sein können. Dann wird sie überzugehen haben nicht durch Kauf oder Vererbung auf einen anderen, sondern durch kaufloses Übertragen an den, welcher wieder die individuellen Fähigkeiten für die Verwaltung hat. Einen Kaufwert wird sie nicht haben, folglich auch keinen Wert in den Händen eines nichtarbeitenden Erben. Kapital mit selbständiger wirtschaftlicher Kraft wird in der Herstellung von Produktionsmitteln arbeiten; es wird sich auflösen in dem Augenblick, in dem die Produktion der Produktionsmittel abgeschlossen ist. Das gegenwärtige Kapital besteht aber im wesentlichen gerade in « produzierten Produktionsmitteln ».

Der sozial richtige Wert eines Gutes (einer Ware) kann sich nur im Vergleich mit anderen Gütern ergeben. Er muß gleich sein dem Wert aller anderen Güter, welche der Hersteller zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht bis zu dem Zeitpunkte, in dem er ein gleiches Gut wieder hergestellt hat, unter Berücksichtigung derjenigen Bedürfnisse, die durch ihn bei anderen Menschen befriedigt werden müssen. (In die letzteren Bedürfnisse sind einzurechnen zum Beispiel die seiner Kinder, der Teil, den er zur Erhaltung erwerbsunfähiger Menschen zu leisten hat usw.) Daß ein solcher Güterwert zustande komme, muß durch die Einrichtungen eines gesunden Wirtschaftslebens vermittelt werden. Diese Einrichtungen können nur durch ein Netz von Korporationen geschaffen werden, welche aus den Erfahrungen der Konsumtion die Produktion regeln. Es kann selbstverständlich nicht von einer Beurteilung der Berechtigung von Bedürfnissen die Rede sein, sondern nur von einer durch die wirtschaftliche Erfahrung und die wirklichen wirtschaftlichen Verhältnisse gestützten Vermittelung zwischen Konsum und Produktion. Entstehende Bedürfnisse, die von der Gesamtheit eines Wirtschaftskreises nicht getragen werden können, werden keinen Gegenwert finden können in den Gütern, welche derjenige herstellt, der die Bedürfnisse hat.

Nur ein solcher Wirtschaftskreislauf wird in dieser Art seine Regelung finden können, der aus den sich gegenseitig stützenden auf Sacherkenntnis und Sachunterlagen beruhenden Maßnahmen der einzelnen Wirtschaftskorporationen heraus entsteht. Jedes Hineinwirken einer Demokratie müßte unterdrückend auf das Ausleben der Sacherkenntnis wirken. Ebenso aber muß auf alles, was aus dem Einflusse der Demokratie hervorgehen soll, das Interesse des Wirtschaftlichen zerstörend wirken.

In der Dreigliederung des sozialen Organismus in ein selbständiges Geistesglied, ein ebensolches Rechtsglied und Wirtschaftsglied liegt die Gesundung dieses Organismus. Die Gliederung wird ja nicht so sein, daß sie die Menschen in drei Stände trennt, sondern so, daß ein Mensch mit seinen gesamtmenschlichen Interessen an allen drei Gliedern teil hat. Es wird die Trennung nur eben so vollzogen sein, daß zum Beispiel im Rechtsorganismus oder im Geistesorganismus nichts zu beschließen sein wird, was aus den Interessen des Wirtschaftskreises entspringt. Im Einheitsstaate, in dem die drei Glieder des Lebens ineinander verfließen, wird eine wirtschaftliche Gruppe ihre Interessen zum Gesetz, zum öffentlichen Recht machen können. In dem dreigliedrigen Organismus wird dies nicht geschehen können, weil wirtschaftliche Interessen nur im Wirtschaftskreislauf sich ausleben können und keine Möglichkeit besteht, sie in das Recht hinüberfließen zu lassen.

Der Zusammenschluß der drei Glieder durch eine Gesamtkörperschaft, die aus den Delegierten der drei Zentralverwaltungen und Zentralvertretungen sich ergibt, wird die denkbar größte Gewähr dafür bieten, daß nicht das eine Gebiet durch das andere vergewaltigt werde. Denn diese Zentralverwaltungen und Zentralvertretungen werden zu rechnen haben mit dem, was sich in ihren Gebieten auf Grund sachlicher Maßnahmen ergibt. Sie werden nicht in die Lage kommen, zum Beispiel das Rechts- oder das Geistesleben von dem Wirtschaftsleben unberechtigt beeinflussen zu lassen, denn sie setzten sich dadurch in Widerspruch mit dem, was sachgemäß in jedem einzelnen Gebiete unabhängig von dem andern sich vollzieht. Ist eine Einflußnahme des einen Gebietes auf das andere nötig, so wird die sachliche Grundlage dazu nicht im Interessenkreise einer Gruppe, sondern nur in dem des ganzen Gebietes liegen können.

Niemand sollte den Glauben haben, daß durch irgendeine soziale Einrichtung das entstehen könne, was er sich vielleicht als einen « Idealzustand » vorstellt. Was erreicht werden kann, ist der lebensfähige gesunde soziale Organismus. Was darüber hinausgeht, müssen die Menschen durch anderes finden als durch die soziale Gestaltung. Die Aufgabe dieser Gestaltung kann nicht darin liegen, das « Glück » zu begründen, sondern die Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus zu finden. In einem solchen aber müssen die Menschen das suchen können, was sie zu einem menschenwürdigen Dasein nötig finden. Auch der natürliche gesunde Organismus schafft von sich aus nicht, was die Seele an innerer Kultur entfalten muß; ein kranker natürlicher Organismus verhindert sie daran. Und ein gesunder sozialer Organismus kann nur die Voraussetzungen schaffen für dasjenige, was die Menschen in ihm durch ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln wollen.

Wer als Utopie oder Ideologie verketzert, was sich als Richtlinie für eine soziale Gestaltung ergibt, und alles der Entwickelung überlassen will, die durch sich selbst herbeiführt, was sein kann, der gleicht einem Menschen, der unpäßlich wird, weil er in einem Zimmer mit dumpfer Luft sitzt, und der nicht ein Fenster öffnen will, sondern abwartet, bis sich die dumpfe Luft « von selbst » zu einer frischen « entwickelt ».

Wer wirklich Demokratie will, der kann an deren wahre Begründung nicht anders denken, als daß er der Selbstverwaltung zuteilt, was diese Begründung durch Verschmelzung mit dem Rechtsstaat unmöglich macht: das Geistesleben und den Wirtschaftskreislauf.