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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Nachträgliche Bemerkungen zum «Matin»-Interview

Es schien mir unmöglich, die während eines Besuches des mir befreundeten Dr. Jules Sauerwein gestellten Fragen nicht zu beantworten. Denn erstens halte ich den gegenwärtigen Zeitpunkt für einen solchen, in dem jeder sprechen muß, der von der Wahrheit des Krieges etwas weiß. Ich hätte unter den gegebenen Verhältnissen Schweigen für Pflichtverletzung halten müssen. Was ich gesagt habe, konnte ich ganz unabhängig von den Memoiren des Herrn von Moltke sagen. Ich habe das alles von Herrn von Moltke im November 1914 und später selbst - sogar oftmals - gehört und niemals eine Verpflichtung des Verschweigens auferlegt erhalten. Es war nur selbstverständlich, darüber nicht zu einer ungeeigneten Zeit zu sprechen.

Zweitens kommt noch etwas in Betracht. Ich habe Herrn von Moltke gekannt und durch Jahre hindurch das Vornehm-Lautere dieser Persönlichkeit schätzen gelernt, über deren Lippen gewiß niemals eine subjektive Unwahrheit gekommen ist. Im Juli 1914 war er in eine tragische Situation hineingestellt. Er kannte das Furchtbare, für das zu entscheiden war, und seine militärische Pflicht gebot ihm, allein zu entscheiden. Nun darf ich vielleicht dazu bemerken, daß mir bei einem andern kurz vorher erfolgten Besuch Dr. Jules Sauerwein erzählte, daß jetzt von gewissen Seiten Nachrichten verbreitet werden, von Moltke sei in Geistesverwirrung gestorben. Er fragte mich, was denn an diesen Dingen und ihrem Zusammenhang mit dem Kriege wahr sei. Ich fühlte mich auch gegenüber diesen empörenden unwahren Ausstreuungen verpflichtet, nicht zu schweigen. (Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß Frau von Moltke nichts wußte von einer Unterredung mit Dr. Sauerwein.)

Es ist nun einmal meine Ansicht, daß die Erörterungen über die «Schuld» am Kriege in einer ganz falschen Bahn sich bewegen. Man kann so gar nicht von «Schuld» sprechen, wie man es tut. Tragik liegt vor. Und durch eine tragische Situation ist der Krieg entstanden. Das zeigt am besten, wie ich glauben muß, was ich durch Herrn von Moltke über die nächsten Kriegsveranlassungen gehört habe. Auf das unsinnige Gerede von von Moltkes «mystischen» Neigungen fühle ich mich nicht veranlaßt einzugehen. Was er in bezug auf den Krieg getan hat, hielt er aus seiner militärischen Pflicht heraus für eine Notwendigkeit. Und ich meine, daß, was er gesagt hat, geeignet ist, die Diskussion über die «Schuld» am Kriege auf eine andere Grundlage zu stellen, als diejenige ist, auf der sie heute in der Welt steht.

Rudolf Steiner