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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Neue Tatsachen über die Vorgeschichte des Weltkrieges

Ein Interview des Berichterstatters des «Matin» Jules Sauerwein mit Dr. Rudolf Steiner über die unveröffentlichten Memoiren des verstorbenen deutschen Generalstabschef von Moltke Oktober 1921

«Sie wissen, daß wenn man Ihren Gegnern glauben darf, der Generalstabschef durch Sie zuerst den Kopf und dann die Marneschlacht verloren haben soll.»

Das ist die Frage, die ich an den berühmten Geistesforscher und Soziologen Rudolf Steiner, geborenen DeutschÖsterreicher, richtete. Ich hege für ihn seit mehr als fünfzehn Jahren aufrichtige Bewunderung und freundschaftliche Empfindungen. Es gereichte mir seinerzeit zur großen Befriedigung, mehrere seiner theosophischen Werke ins Französische zu übertragen. Jedesmal wenn meine Reise es gestattet, versäume ich nicht, bei der Durchreise durch Basel Dr. Steiner in Dornach einen kurzen Besuch zu machen.

Ich traf ihn auch dieses Mal bei dem merkwürdigen und gewaltigen Bau, der von seinen Schülern den Namen Goetheanum erhalten hat in Würdigung Goethes als Vorläufer der Geisteswissenschaft. Ich habe bereits im «Matin» sowohl über den Mann wie über den Bau und dessen wunderbare Lage, auf den letzten von Burgruinen überkrönten Ausläufern des Jura geschrieben.

Rudolf Steiner war gerade aus Deutschland zurückgekehrt, nachdem er in Stuttgart und Berlin vor Tausenden begeisterter Zuhörer Vorträge über seine Lehre gehalten hatte. In Dornach empfing er am gleichen Tage eine Gruppe von 120 Theologen, mit denen er in einer Erörterung theologischer und religiöser Fragen getreten war. Eine ganze Anzahl dieser Theologen beabsichtigen auf Grundlage der von Dr. Steiner vertretenen Lehren eine Neugestaltung des religiösen Lebens in Angriff zu nehmen.

Dr. Steiner arbeitete gerade an einer gewaltigen Gruppe in Holzplastik, welche Christus und die unterliegenden verführerischen Mächte, Luzifer und Ahriman, darstellt. Es ist dies eine der eindrucksvollsten Schöpfungen, die ich jemals gesehen habe; sie wird den zentralen Abschluß des kleineren Kuppelraumes im Goetheanum bilden. Während ich in der Abenddämmerung die Hörer beobachtete, welche in kleinen Gruppen die Anhöhe heraufstiegen, um sich zum Vortrage zu versammeln, erzählte mir Dr. Steiner von den Angriffen seiner Gegnerschaft. Klerikale und Alldeutsche und fanatische Anhänger verschiedener Religionsbekenntnisse kämpfen mit jeder Waffe und bei jeder Gelegenheit gegen ihn.

 

Die Furcht vor der Wahrheit

Als ich ihm geradewegs die Frage stellte bezüglich des Generals von Moltke, richtete er seine durchdringenden Augen auf mich, welche mich aus einem von vierzigjährigem intensivsten geistigen Ringen durchfurchten Antlitze anschauten.

«Was Sie mir sagen, setzt mich nicht in Verwunderung. Es wird vor keinem Mittel zurückgeschreckt, mich aus Deutschland und womöglich auch aus der Schweiz zu vertreiben. Diese Angriffe gehen auf die verschiedensten Untergründe zurück. Insofern sie sich aber auf meine Beziehungen zu Moltke erstrecken, haben sie ein ganz bestimmtes Ziel. Sie wollen die Veröffentlichung einiger Aufzeichnungen verhindern, die Moltke vor seinem Tode für seine Familie gemacht hat und deren Herausgabe im Buchhandel ich im Einverständnis mit Frau von Moltke besorgen sollte.

Diese Memoiren hätten schon 1919 erscheinen sollen. Unmittelbar vor ihrem Erscheinen suchte mich eine Persönlichkeit auf, welcher die diplomatische Vertretung Preußens in Stuttgart oblag, um mir zu sagen, daß diese Publikation unmöglich sei und daß man sie in Berlin nicht werde haben wollen. Später kam ein General zu mir, welcher in Stellungen um den General von Moltke und Wilhelm II. gewesen war, und machte mir dieselben Vorstellungen. Dagegen erhob ich Protest und wollte mich darüber hinwegsetzen. Ich dachte mich an den damals in Versailles anwesenden Grafen von Brockdorff-Rantzau zu wenden; konnte aber nichts erreichen. Meine Bemühungen blieben um so mehr ohne Erfolg, als man zur gleichen Zeit an Frau von Moltke mit Vorstellungen herantrat, denen sie sich nicht entziehen konnte.

Warum diese Befürchtungen? Diese Memoiren sind durchaus nicht eine Anklage gegen die kaiserliche Regierung. Es geht aber aus ihnen hervor, was vielleicht schlimmer ist, daß sich die Reichsregierung im Zustande vollkommener Verwirrung und unter einer unbegreiflich leichtsinnigen und ignoranten Führung befand. Man kann auf die verantwortlichen Persönlichkeiten den Satz anwenden, welchen ich in meinem Vorwort niedergeschrieben habe: <Nicht was sie getan haben, hat zur Herbeiführung des Unheils beigetragen, sondern das ganze Wesen ihrer Persönlichkeiten.>

Ich kann hinzufügen, daß es in den eigentümlichen Verhältnissen lag, welche bewirkten, daß zuletzt die Wucht der entscheidenden Entschließungen auf einem einzigen Mann, dem Generalstabschef, lasteten, welcher sich dadurch gezwungen sah, seine militärische Pflicht zu tun, weil die Politik auf dem Nullpunkt angekommen war. Ich habe niemals vor dem Rücktritt Moltkes mit ihm über politische oder militärische Fragen gesprochen. Erst später, als er schwer erkrankt war, sprach er sich natürlicherweise mir gegenüber offen über alle diese Angelegenheiten aus, und ich will Ihnen, da Sie dieses interessieren wird, sagen, was er mir selbst erzählte und was auch aus seinen unveröffentlichten Memoiren ersichtlich ist.

Ende Juni 1914 begab sich Moltke, der seit 1905 Generalstabschef war, aus Gesundheitsrücksichten nach Karlsbad. Er hat bis zu seinem Tode nichts gewußt von einer Potsdamer Beratung vom 5. oder 6. Juli. Er war erst nach dem Ultimatum an Serbien gesund nach Berlin zurückgekehrt. Seit seiner Rückkehr hatte er, wie er sagte, die feste Überzeugung, daß Rußland angreifen werde. Er sah die tragische Entwickelung deutlich voraus, welche die Dinge annehmen mußten, das heißt, er glaubte an die Teilnahme Frankreichs und Englands an dem Weltkonflikt. Er schrieb für den Kaiser ein Memorandum, das auf dieNotwendigkeit zu treffender Maßnahmen hinwies. Der Plan des deutschen Generalstabes war im wesentlichen seit langer Zeit festgelegt. Er war durch den Vorgänger Moltkes, von Schlieffen, aufgestellt worden. Sie kennen seine Grundzüge: Große Massen sollten gegen Frankreich geworfen werden, um mit jedem Preis eine rasche Entscheidung im Westen zu erzielen. Gegen Rußland war eine schwache Verteidigungsarmee vorgesehen, die nach der Entscheidung auf dem westlichen Kriegsschauplatz später aufgefüllt werden sollte.

Betörte Menschen

Von Moltke hatte in einem allerdings wichtigen Punkte den Plan seines Vorgängers geändert. Während Schlieffen den gleichzeitigen Durchmarsch durch Belgien und Holland in Aussicht genommen, hatte Moltke auf Holland verzichtet, um Deutschland im Falle einer Blockade Atmungsmöglichkeiten zu lassen.

Als Moltke am Freitag, dem 31. Juli, ins Schloß kam, fand er völlig verwirrte Leute. Er hatte, wie er sagte, den Eindruck, daß er sich in die Lage versetzt sah, ganz allein einen Entschluß fassen zu müssen. Der Kaiser unterzeichnete an diesem Tage noch nicht den Mobilmachungsbefehl, einen Befehl, der in Deutschland durchaus der Kriegserklärung gleichkommt, denn sobald dieser Befehl erteilt ist, rollt alles einschließlich der ersten Operation zu bestimmten Stunden mit einem unerbittlichen Automatismus ab. Wilhelm II. begnügte sich für jenen Tag, den Zustand der drohenden Kriegsgefahr zu proklamieren. Am folgenden Tag, am Samstag, dem 1. August um vier Uhr nachmittags, ließ er Moltke wieder zu sich rufen, und in den nunmehr folgenden sechs Stunden spielte sich das folgende Drama ab.

Moltke trifft den Kaiser in Gegenwart von Bethmann Hollweg, welchem buchstäblich die Knie zitterten, des Kriegsministers Falkenhayn, des Generals von Plessen, Lyncker und einigen anderen. Der Kaiser erhebt lebhaften Widerspruch gegen die Absichten des Generalstabschefs. Er habe, sagt er, die besten Nachrichten aus England erhalten. England werde nicht nur neutral bleiben - wie Georg V. ihm mitteile -, es werde sogar Frankreich verhindern, am Kriege teilzunehmen. Unter diesen Bedingungen sei es logisch, die ganze Armee gegen Rußland zu werfen. Nein, antwortete Moltke, der Plan muß im Osten wie im Westen so ausgeführt werden, wie er festgesetzt ist, wenn wir nicht das größte Unglück herbeiführen wollen.

 

Die technischen Gründe

Die Einwände berühren Moltke nicht, er weigert sich, irgend etwas zu ändern. Er macht geltend, daß im Sinne des Mobilmachungsbefehles ohne jeden Aufschub verfahren werden müsse. Er glaubt nicht an die englischen Telegramme, und mit dem Mobilmachungsbefehl in der Hand, den Wilhelm II. soeben unterzeichnet hat, wird er entlassen, die anderen in einem Zustande völliger Verwirrung zurücklassend. So kam es, daß aus rein militärischen Rücksichten die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen mußte. Auf dem Wege vom Schloß zum Generalstab wird sein Wagen von einem kaiserlichen Automobil eingeholt. Moltke wird im Auftrag des Kaisers zurückgerufen. Der Kaiser ist aufgeregter denn je. Er zeigt seinem Generalstabschef ein Telegramm aus England. Er glaubt aus diesem Telegramm mit absoluter Gewißheit zu ersehen, daß der Konflikt auf den Osten beschränkt und daß England und Frankreich neutral bleiben werden. <Es muß>, so schließt er, <sofort ein Befehl an die Armee gelangen, im Westen nicht vorzugehen.> Moltkes Antwort lautet, daß man eine Armee nicht der Alternative von Befehl und Gegenbefehl aussetzen könne. Da wandte sich der Kaiser, während Moltke dabei stand, an den Flügeladjutanten vom Dienst und befahl ihm, sofort dem Kommando der 16. Division nach Trier den Befehl zu übermitteln, sie solle nicht in Luxemburg einmarschieren. Moltke begibt sich nach Haus. Erschüttert, weil er das größte Unheil aus solchen Maßnahmen erwartet, setzt er sich an seinen Tisch. Er erklärt, er könne in dem Sinne des telephonischen Befehles des Kaisers keine Maßnahmen für die Armee treffen. Dieser Befehl wird ihln von einem Adjutanten zur Unterschrift überbracht. Er verweigert die Unterschrift und schiebt den Befehl zurück. Bis um 11 Uhr abends bleibt er in einem Zustand dumpfer Erschöpfung, trotzdem er ganz gesund von Karlsbad zurückgekommen war. Um 11 Uhr wird er angeläutet. Der Kaiser fragt wieder nach ihm. Er begibt sich sofort auf das Schloß. Wilhelm II., der sich schon zur Ruhe begeben hatte, wirft einen Schlafrock über und sagt: Alles hat sich geändert. Das Unheil ist im Anzug. Der König von England hat soeben in einem neuen Telegramm erklärt, daß er mißverstanden worden sei und daß er weder in seinem Namen noch in demjenigen Frankreichs irgendeine Verpflichtung übernehme. Er schließt mit den Worten: Jetzt können Sie machen, was Sie wollen. Und nun beginnt der Krieg.

 

Trübe Vorzeichen

Im Monat August habe ich den General von Moltke ein einziges Mal, und zwar am 27. August in Koblenz, gesehen. Unsere Unterhaltung drehte sich um rein menschliche Angelegenheiten. Das deutsche Heer war noch im vollen Sieges-zuge. Es war auch keine Veranlassung, über das zu sprechen, was noch nicht da war. Die Marneschlacht entfaltete sich später. Ich hatte bis dahin von Moltke nicht mehr gesehen. Sie ging unter Bedingungen vor sich, welche von Moltkes Erwartungen auf das tiefste erschüttern mußten. Während der Probemanöver hatte er mehrmals einen vorsichtigen Vormarsch auf dem rechten Flügel ausführen lassen, der bei einem Marsch auf Paris hätte in Betracht kommen können. Dreimal war Kluck, der den Oberbefehl über den rechten Flügel hatte, zu schnell vorgerückt. Jedesmal sagte Moltke zu ihm, wenn Sie im entscheidenden Augenblick ebenso schnell vorrücken, werden wir im Ernstfall den Krieg verlieren. Als der Armee von Kluck die Umfassung drohte, sah sich Moltke von einer schrecklichen Ahnung ergriffen. Es stieg ihm der Gedanke auf: der Krieg könnte für Deutschland verloren werden. Das scheint mir zur <Psychologie> des Kriegsverlaufes zu gehören. Als von Moltke am 13. September ins Hauptquartier zurückkehrte, machte er den Eindruck eines tief erschütterten Mannes. Die Umgebung des Kaisers hielt ihn für krank. Von diesem Augenblick an führte in Wirklichkeit Falkenhayn, ohne den offiziellen Titel zu haben, den Oberbefehl. Später, als Moltke das Bett hüten mußte, besuchte ihn Wilhelm II. Bin ich es noch, der die Operationen leitet? fragte er den Kaiser. Ich glaube in der Tat, daß Sie es noch sind, antwortete ihm Wilhelm II. So wußte während Wochen der Kaiser noch nicht einmal, wer der tatsächliche Oberbefehlshaber seiner Truppen sei.

Aber nun ein neues Beispiel von der Meinung, die man von Wilhelm II. in dessen eigener Umgebung hatte. Eines Tages, als von Moltke mir die Gefühle tiefen Leides schilderte, die er nach der Einnahme von Antwerpen über Belgien zurückkehrend empfand, befragte ich ihn zum erstenmal über den Einmarsch in Belgien. Wie kommt es, so fragte ich. daß ein Kriegsminister im Reichstag behaupten konnte, daß der Plan eines Einfalles in Belgien nicht existiert habe. Dieser Minister, antwortete Moltke, kannte meinen Plan nicht, der Kanzler aber war auf dem Laufenden. Und der Kaiser? Niemals, sagte Moltke: Der war zu geschwätzig und indiskret. Er hätte es der ganzen Welt ausgeplaudert! »

Jules Sauerwein.