Our bookstore now ships internationally. Free domestic shipping $50+ →

The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Vorbemerkungen zu «Die ‹Schuld› am Kriege»

Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabschefs H. von Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914 Mai 1919

Das deutsche Volk muß sich der Wahrheit über den Kriegsausbruch gegenübergestellt sehen. Kraft zu dem Handeln, das ihm jetzt notwendig ist, kann es aus dieser Wahrheit schöpfen. Der Ernst der gegenwärtigen Lage gebietet, alle Bedenken zu unterdrücken, die von der einen oder andern Seite erhoben werden gegen die Enthüllung der Ereignisse, die in Deutschland dem Beginn des Krieges vorangegangen sind.

Mit dieser Veröffentlichung soll ein Beitrag zur Darstellung der Wahrheit über diese Ereignisse gegeben werden. Er rührt von dem Manne her, der Ende Juli und Anfang August 1914 im Mittelpunkt dessen gestanden hat, was in Berlin damals geschehen ist, dem Chef des Generalstabes, dem Generalobersten Helmuth von Moltke. Man wird aus dem Beitrag ersehen, wie stark von diesem Manne behauptet werden darf, daß er im Mittelpunkte dieser Ereignisse gestanden hat.

Die Witwe des Herrn von Moltke, Frau Eliza von Moltke, erfüllt eine ihr von der Geschichte auferlegte Pflicht, indem sie diese Aufzeichnungen der Öffentlichkeit nicht vorenthält. Wer sie liest, wird wohl die Meinung gewinnen können, daß sie das wichtigste historische Dokument sind, das in Deutschland über den Beginn des Krieges gefunden werden kann.

Die Stimmung kennzeichnen sie, aus der in militärischen Kreisen der Krieg für unvermeidlich gehalten worden ist. Die militärischen Gründe legen sie dar, aus denen heraus er diejenige Entfaltung in seinem Anfange genommen hat, die dem deutschen Volke die Verurteilung der ganzen Welt gebracht hat.

Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes. Hier hat sie eines, niedergeschrieben von dem Manne, dessen Aufzeichnungen in jedem Satze das Gepräge der Ehrlichkeit tragen, der - man wird es aus den Aufzeichnungen ersehen - in dem Augenblicke, als er schrieb, gar nichts anderes wollen konnte, als die lauterste subjektive Wahrheit seiner Feder entströmen lassen.

Und diese Wahrheit: sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte. Eine Verurteilung, die auf noch ganz andere Dinge hinweist, als diejenigen sind, die bei Freund und Feind angenommen werden.

Nicht die eigentlichen Ursachen des Krieges wird man in diesen Aufzeichnungen geschildert finden. Diese sind in Ereignissen zu suchen, welche natürlich weit zurückreichen. Aber zur rechten Beleuchtung dieser Ereignisse führt, was Ende Juli 1914 geschehen ist. Das Zusammenbrechen des Kartenhauses, das deutsche Politik genannt worden ist, zeigt sich in dieser Beleuchtung. Personen sieht man an dieser Politik beteiligt, bei denen jeder Beweis, daß sie den Krieg haben vermeiden wollen, überflüssig ist. Man kann ihnen ruhig glauben, daß sie den Krieg haben vermeiden wollen. Er hätte nur vermieden werden können, wenn sie niemals hätten auf ihre Posten kommen können. Nicht, was sie getan haben, hat zur Herbeiführung des Unheils beigetragen, sondern das ganze Wesen ihrer Persönlichkeiten.

Es ist erschütternd, in diesen Aufzeichnungen zu lesen, wie deutsches militärisches Urteil deutschem politischem Urteil im entscheidenden Augenblicke gegenübersteht. Das politische Urteil steht ganz außerhalb jeder Beurteilungsmöglichkeit der Lage, steht im Nullpunkte seiner Betätigung, und es ergibt sich eine Situation, über welche der Generals tabschef schreibt: «Die Stimmung wurde immer erregter und ich stand ganz allein da.»

Man bedenke doch, was in diesen Aufzeichnungen steht von diesem Satze an bis zu dem andern: <Nun können Sie machen> was Sie wollen.»

Ja, so war es: Der Chef des Generalstabes stand ganz allein da. Weil die deutsche Politik im Nullpunkte ihrer Betätigung angekommen war, lag Europas Schicksal am 31. Juli und am 1. August 1914 in der Hand des Mannes, der seine militärische Pflicht tun mußte. Der sie tat mit blutendem Herzen.

Wer beurteilen will, was da geschehen ist, der muß sachgemäß, ohne Voreingenommenheit die Frage sich vorlegen; wodurch ist es gekommen, daß Ende Juli 1914 in Deutschland keine andere Macht da war, über das Schicksal des deutschen Volkes zu entscheiden, als allein die militärische? War es einmal so, dann war der Krieg für Deutschland eine Notwendigkeit. Dann war er eine europäische Notwendigkeit. Der Generalstabschef, der «allein dastand», konnte ihn nicht vermeiden.

Wie auf die Spitze des militärischen Urteiles in den Zeiten, die dem Kriegsausbruch vorausgingen, alles in Deutschland gestellt war, das zeigt der unglückselige Einfall in Belgien, der eine «militärische Notwendigkeit» und eine politische Unmöglichkeit war. Der Schreiber dieser Zeilen hat Herrn von Moltke, mit dem er jahrelang befreundet war, im November 1914 gefragt: Wie hat der Kaiser über diesen Einfall gedacht? Und es wurde geantwortet: Der hat vor den Tagen, die dem Kriegsausbruch vorangingen, nichts davon gewußt. Denn bei seiner Eigenart hätte man befürchten müssen, daß er die Sache aller Welt ausgeschwätzt hätte. Das durfte nicht geschehen, denn der Einfall konnte nur Erfolg haben, wenn die Gegner unvorbereitet waren. - Und wußte der Reichskanzler davon? Ja, der wußte davon.

Diese Dinge darf heute nicht verschweigen, wer sie weiß, auch wenn er sie noch so ungerne mitteilt. Nur zum Überflusse will ich bemerken, daß ich, nach der ganzen Art meiner Aussprachen mit Herrn von Moltke, nicht die geringste Verpflichtung habe, diese Dinge zu verschweigen, und daß ich weiß, ich handle in seinem Sinne, wenn ich sie mitteile. Sie zeigen, wie die deutsche Politik in den Nullpunkt ihrer Betätigung hineintrieb.

Man muß auf diese Dinge weisen, wenn man von der «Schuld» des deutschen Volkes sprechen will. Diese «Schuld» ist doch von ganz besonderer Art. Es ist die Schuld eines gänzlich unpolitisch denkenden Volkes, dem die Absichten seiner «Obrigkeit» durch undurchdringliche Schleier verhüllt worden sind. Und das aus seiner unpolitischen Veranlagung heraus gar nicht ahnte, wie die Fortsetzung seiner Politik der Krieg werden mußte.

Unbegreiflich muß es ja auch erscheinen, daß an offizieller Stelle sogar einige Zeit vor dem Kriege von einer Persönlichkeit Worte gesprochen worden sind, aus denen man schließen mußte, daß in Deutschland nicht die Absicht bestehe, die belgische Neutralität jemals zu verletzen, während Herr von Moltke mir ebenfalls im November 1914 sagte, daß diese Persönlichkeit von der Absicht, durch Belgien zu marschieren, gewußt haben müßte.

 

Die Frage, ob das deutsche Volk im Jahre 1914 in den Kriegsausbruch hätte verhindernd eingreifen können: sie beantworten diese Aufzeichnungen restlos. Weit zurück hätten die Taten liegen müssen, durch die bewirkt hätte werden können, daß die Ereignisse dieses Jahres Deutschland in einem anderen Zustande angetroffen hätten, als er da gewesen ist. Nachdem dieser Zustand einmal da war, konnte anderes nicht geschehen, als geschehen ist. So muß das deutsche Volk heute sein Schicksal ansehen. Und aus der Kraft, die ihm diese Einsicht gibt, muß es seinen weiteren Weg finden. Die Ereignisse während der furchtbaren Kriegskatastrophe beweisen dies nicht minder, als die in diesen Aufzeichnungen über den Kriegsanfang enthaltenen. Doch ich habe hier nicht darüber zu sprechen; denn mir obliegt es hier nur, diese Aufzeichnungen einzuleiten.

Man sieht aus den Aufzeichnungen, daß nicht die Annahme, Frankreich oder England werde die belgische Neutralität verletzen, wenn dies nicht Deutschland tun werde, das Maßgebende war, sondern die ändere, daß Frankreich hinter seiner starken Ostfront einen Defensivkrieg führen werde, der vermieden werden sollte. Dieser Ausgangspunkt bestimmte für Deutschland die ganze Gestaltung des Krieges schon seit vielen Jahren. Und dieser Ausgangspunkt mußte die Entscheidung auf die Spitze des militärischen Urteiles stellen, wenn nicht seit ebenso langer Zeit von einer Politik daran gearbeitet wurde, für eine solche Entscheidung ändere Kräfte ins Feld führen zu können. Das ist nicht geschehen. Man hatte einer Entwickelung entgegengetrieben, die im entscheidenden Augenblicke notwendig machte, jedes politische Urteil vor dem militärischen zurücktreten zu lassen. Hinter dem, worauf die Aufzeichnungen an diesem Punkte weisen, liegt das eigentlich Maßgebende. Der Aufruf «an das deutsche Volk und an die Kulturwelt» hat darauf hingewiesen. Das Deutsche Reich war «in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung». Diese Zielsetzung hätte nicht so sein dürfen, daß nur militärische Macht sie zu tragen hatte, konnte überhaupt nicht auf Machtentfaltung im äußeren Sinne gerichtet sein. Sie konnte nur auf die innere Entwickelung seiner Kultur gerichtet sein. Durch eine solche Zielsetzung hätte Deutschland niemals sein Wesen aufzubauen gebraucht auf Dinge, die es in Konkurrenz und dann in offenen Konflikt bringen mußten mit anderen Reichen, denen es in der Entfaltung der äußeren Macht doch unterliegen mußte. Ein Deutsches Reich hätte eine von dem äußeren Machtgedanken absehende Politik, eine wahre Kulturpolitik entwickeln müssen. Es hätte niemals dürfen gerade in Deutschland der Gedanke aufkommen, daß ein «unpraktischer Idealist» ist, wer diese Kulturpolitik für die einzig mögliche hält. Denn alle Machtentfaltung mußte wegen der allgemeinen Weltlage schließlich sich verwandeln in die rein militärische Macht; und dieser durfte das Schicksal des deutschen Volkes nicht allein anheimgestellt werden.

In schlichter Art erzählt in diesen Aufzeichnungen die maßgebende Persönlichkeit, was sie Ende Juli und Anfang August 1914 erlebt und getan hat; und diese Erzählung wirft ein helles Licht auf die Tragik des deutschen Schicksals. Sie zeigt, «wie die deutsche Politik damals sich als die eines Kärtenhäuses verhielt, und wie durch ihr Ankommen im Nullpunkt ihrer Betätigung alle Entscheidung, ob und wie der Krieg zu beginnen war, in das Urteil der militärischen Verwaltung übergehen mußte. Wer maßgebend in dieser Verwaltung wär, konnte damals aus den militärischen Gesichtspunkten heraus nicht anders handeln> als gehandelt worden ist, weil von diesen Gesichtspunkten aus die Situation nur so gesehen werden konnte, wie sie gesehen worden ist. Denn außer dem militärischen Gebiet hätte man sich in eine Läge gebracht, die zu einem Handeln gar nicht mehr führen konnte.» (Vgl. des Verfassers «Kernpunkte der sozialen Frage», Verlag Greiner und Pfeiffer, Stuttgart 1919.)

Der vollgültige Beweis dafür liegt in den Aufzeichnungen Helmuth von Moltkes. Ein Mann spricht da, der den «kommenden Krieg» als das größte Unglück des deutschen, ja der europäischen Völker ansah; dem er so jahrelang vor der Seele gestanden hat und der im entscheidenden Augenblicke davor steht: seine militärische Pflicht zu verletzen, wenn er den Kriegsbeginn auch nur um Stunden hinausschieben läßt. Ich habe durch viele Jahre vor dem Kriege gesehen, wie dieser Mann den höchsten geistigen Ideen mit inbrünstiger Sehnsucht zugewandt war, wie seine Gesinnung eine solche wär, daß das kleinste Leid eines jeden Wesens ihm herzlich nahe ging; ich habe ihn viele Dinge sprechen gehört; kaum irgend etwas Erhebliches über militärische Dinge. Wahrhaftig nicht er, sondern die militärische Denkärt durch ihn spricht aus einem Sätze wie dem folgenden der Aufzeichnungen: «Die höchste Kunst der Diplomatie besteht meiner Ansicht nach nicht darin, den Frieden unter allen Umständen zu erhalten, sondern darin, die politische Lage des Staates dauernd so zu gestalten, daß er in der Läge ist, unter günstigen Voraussetzungen in einen Krieg eintreten zu können.» Und wie überschattet militärisches Denken die Aufklärungen, die sich Helmuth von Moltke gewissermaßen beim Niederschreiben dieser Aufzeichnungen selbst gibt über die geschichtliche Entwickelung der Menschheit und Europas.

Man wird verstehen, warum aus solchen Voraussetzungen heraus in diesen Aufzeichnungen der Satz steht: «Deutschland hat den Krieg nicht herbeigeführt, es ist nicht in ihn eingetreten aus Eroberungslust oder aus aggressiven Absichten gegen seine Nachbarn. - Der Krieg ist ihm von seinen Gegnern aufgezwungen worden, und wir kämpfen um unsere nationale Existenz, um das Fortbestehen unseres Volkes, unseres nationalen Lebens.» Ich konnte nie einen ändern Eindruck haben, als dieser innerlich so vornehme Mann hätte lange vor dem Kriege seinen Abschied genommen, wenn er sich über den «kommenden» von ihm für unvermeidlich gehaltenen Krieg hätte etwas anderes sägen müssen als das in den obigen Sätzen ausgedrückte. So wie die Verhältnisse lägen, konnte militärisches Denken in Deutschland zu einem ändern Urteil nicht kommen. Und durch dieses Urteil war es verurteilt, sich in Konflikt mit der ganzen übrigen Welt zu bringen. Aus dem Unglück wird das deutsche Volk lernen müssen, daß sein Denken in der Zukunft ein anderes sein muß. Militärisch mußte der Krieg für notwendig gelten, politisch war er nicht zu rechtfertigen, nicht zu verantworten und aussichtslos.

Wie tragisch ist es doch, daß ein Mann sich zu einer Tat wenden muß, deren Verantwortung ihm das Herz bluten macht, die er als seine heilige Pflicht betrachten muß; und die außerhalb Deutschlands als moralische Verfehlung, als beabsichtigtes Herbeiführen des Krieges aufgefaßt werden mußte. So stoßen die Weltereignisse in einer Lebenssphäre aufeinander, wo die Idee der «Schuld» in ein ganz anderes Licht gerückt werden müßte, als dies jetzt von allen Seiten so häufig geschieht.

Man hat von den deutschen «Kriegshetzern» gesprochen. Und mit Recht, sie waren da. Man hat davon gesprochen, Deutschland habe den Krieg nie gewollt. Und mit Recht. Denn das deutsche Volk hat ihn nicht gewollt. Aber die «Kriegshetzer» hätten den Krieg in den letzten Tagen nicht wirklich herbeiführen können; ihre Bemühungen wären in eine Sackgasse eingelaufen, wenn ihn militärisches Denken nicht hätte für notwendig halten müssen. In den Aufzeichnungen steht doch der Satz: «Ich habe die Überzeugung, daß der Kaiser die Mobilmachungsordre überhaupt nicht unterzeichnet haben würde, wenn die Depesche des Fürsten Lichnowsky eine halbe Stunde früher angekommen wäre». Die politische Stimmung war gegen den Krieg; allein diese politische Stimmung war zur Null geworden gegenüber den militärischen Erwägungen. Und zur Null war sie selbst geworden gegenüber der Frage, wie man gegen Osten oder gegen Westen vorgehen solle. Das hing gar nicht von der politischen Läge des in Betracht kommenden Zeitpunktes, sondern von militärischen Vorbereitungen ab. Man hat auch viel gefabelt von einem Kronrat oder dergleichen, der am 5. Juli in Potsdam abgehalten worden sein soll, und der den Krieg planvoll soll vorbereitet haben. Nun, Herr von Moltke, in dessen militärischen Willen Ende Juli die Entscheidung gelegt war, ging noch im Juni zur Kur nach Karlsbad; er kam von da erst gegen Ende Juli zurück. Er hat bis zu seinem Lebensende nichts von einem solchen Kronräte gewußt. Er hat die Entscheidung rein aus militärischen Gesichtspunkten herbeigeführt. Gewiß, was sich im Juli 1914 in der europäischen Läge zum Ausdruck brächte und was schließlich die Grundlage dafür abgab, daß die militärischen Erwägungen so ausfielen, wie sie ausgefallen sind: es geht auf Ereignisse zurück, die durch Jahre liefen. An diesen Ereignissen tragen viele deutsche Persönlichkeiten die Schuld; aber sie haben diese Ereignisse herbeigeführt, weil sie das Wesen Deutschlands in äußerer Macht- und Glanzentfaltung sähen; nicht weil sie zum Kriege «hetzen» wollten. Und diejenigen, welche zum Kriege hetzten: mit ihnen wäre in den verhängnisvollen Julitagen die politisch friedliche Stimmung fertig geworden; ihre Bestrebungen wären blind ausgelaufen, wenn nicht nach dem 26. Juli die Dinge eingetreten wären, welche in Deutschland die Kette der unmittelbaren Kriegsursachen von vorne an geschmiedet haben. Auf Herrn von Moltke lag die Entscheidung; und er hätte - das geht aus den Aufzeichnungen hervor - mit irgendwelchen Kriegshetzern nichts zu tun. Wie oft konnte ich, nach seiner Verabschiedung, aus seinem Munde Worte hören, die deutlich sagten: nie hätte man auf Kriegshetzer gehört, aus welchem Lager sie auch gekommen wären. Gefragt um Bernhardi, hätte er nur jene Abweisung, die deutlich besagte: der hätte Bücher schreiben können, wieviel er gewollt hätte: auf dergleichen hat bei uns nie jemand gehört, auf den es angekommen ist. So etwas schriebe ich hier nicht hin, wenn die Aufzeichnungen nicht das volle Recht dazu gäben; und wenn mir dieses Recht nicht auch zahlreiche Gespräche mit Herrn von Moltke während des Krieges gäben. - Vorher hat er, wie schon erwähnt, über Militärisches kaum etwas mit mir gesprochen. - Ich weiß, durch wie viele Kanäle solche Stimmungen wie die Bernhardischen auch auf die maßgebenden Persönlichkeiten übergehen können, und wie maßgebend solche sein können, die nicht an den «maßgebenden» Stellen stehen. Aber Herr von Moltke war maßgebend; und was er tat, stammte aus seiner unbeeinflußten Überzeugung. - Man kann von aller - durchaus hier nicht geleugneten - Kriegshetzerei absehen: die unmittelbare Ursächenströmung, die in die Kriegserklärungen Deutschlands auslief, setzte mit den Urteilen ein, die nach seiner Ankunft in Berlin Herr von Moltke sich vom rein militärischen Gesichtspunkte aus der europäischen Situation heraus gebildet hat. Alles andere, das man unter die unmittelbaren Kriegsveranlassungen zählen will, verlief blind und hätte nicht zu dem führen können, was geworden ist.

Damit sind die Aufzeichnungen der vollgültige Beweis dafür, daß nicht das militärische Urteil als solches und nicht das völlig unzulängliche politische Urteil 1914 von deutscher Seite her den Krieg veranlaßt hat, sondern die Tatsache, daß keine deutsche Politik vorhanden war, welche die Ausschließlichkeit des militärischen Urteiles verhindern konnte. Nur durch eine solche Politik hätte im Jahre 1914 anderes geschehen können, als geschehen ist. So sind diese Aufzeichnungen eine furchtbare Anklage dieser Politik. Diese Erkenntnis darf nicht verborgen bleiben.

Man wird gegen die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen vielleicht einwenden wollen, es stehe am Schlusse der Satz: «Sie sollen nur für meine Frau bestimmt sein und dürfen niemals der Öffentlichkeit bekannt werden.» Das hat Herr von Moltke im November 1914 in Homburg geschrieben, wo diese Niederschrift entständen ist. Es steht in diesen Mitteilungen nichts, was ich nicht im November und später von Herrn von Moltke gehört habe und wofür ich niemals eine Verpflichtung des Verschweigens auferlegt erhielt. Im Gegenteil: ich würde meine Pflicht gegen die notwendige Mitteilung dessen, was nicht verschwiegen werden darf, verstoßen, wenn ich auch jetzt noch mit dem von mir Gewußten zurückhielte. Ich müßte sägen, was in diesen Mitteilungen steht, auch wenn sie nicht vorhanden wären; und könnte es sägen, denn ich kannte die Dinge alle, bevor ich die Aufzeichnungen gelesen hätte. Und Frau von Moltke zeigt durch die Veröffentlichung, daß sie Verständnis hat für geschichtliche Pflichten; und sie weiß aus der schweren seelischen Leidenszeit, die für ihren Mann mit seiner Verabschiedung begann, daß sie mit der Veröffentlichung in seinem Sinne und nicht gegen seinen Sinn handelt. Dieser Mann hat Unsägliches gelitten. In seiner Seele lebte er jede Schwingung im Kriegsschicksäle seines Volkes bis zu seinem Tode mit. Und so werden die Worte, die Aufzeichnungen sollen nur «für meine Frau bestimmt sein», zum Beweise für die absolute Ehrlichkeit und Lauterkeit des Niedergeschriebenen. Im Augenblicke des Niederschreibens glaubte dieser Mann, daß er nur für seine Frau schreibe: wie konnte das geringste Unlautere in die Aufzeichnungen einfließen! Das sage ich nur der Öffentlichkeit gegenüber, denn ich habe den Mann gekannt, von dessen Lippen eine subjektive Unwahrheit niemals gekommen ist.

Warum sind diese Aufzeichnungen nicht früher bekannt geworden? So wird man vielleicht fragen. Oh, man hat sich lange genug bemüht, sich für ihren Inhalt Gehör zu verschaffen bei denen, die ihn hätten hören sollen, um ihrem Handeln die Richtung zu geben. Man wollte ihn nicht hören. Man interessierte sich nicht dafür. Das gehörte nicht zum «Ressort». Jetzt muß ihn die Öffentlichkeit kennenlernen.

Geschrieben zu Stuttgart, Mai 1919

Rudolf Steiner