Posthumous Essays and Fragments
1879-1924
GA 46
From Notebook 436, undated, circa 1902.
Automated Translation
40. Knowledge of Nature and Knowledge of the Mind – From Wisdom to Faith
Life must be shaped according to ideals. Therefore, harmony between ideal and life must be possible.
Therefore, one should not say, as Harnack does: “Absolute value judgments are always created only by feeling and will”. No, the same life that creates plants and animates animals creates value judgments in man. If you cannot find the spiritual source of life in the silent stone, in the sprouting plant, then you will soon grow weary of believing in it in your own soul. If the laws of nature that your science investigates are something separate from you, and the laws that also give you value are likewise something separate, something separate from those, then you easily lose your certainty about the latter. Your scientific observation compels you to believe in the laws of nature; you must believe in them if you do not want to deny your eyes and ears and your mind. Do you know that the other, higher laws are just as firmly at work in the universe, which first flash in your soul, then you must say to yourselves: these are as true as those. And if you do not live your ideals, it is as if the sun did not follow its course. A sun that did not revolve in these orbits would disturb the course of the universe; a person who does not live his ideals disturbs it in the same way. And why do many not feel this disturbance? Because they do not see the same source in both. Because they separate their faith from their will. The child of this separation is indifference to faith.
There are enough of these indifferent people living among us today. They enjoy the light and warmth of the sun, they satisfy their everyday needs, which have been implanted in them by the laws of nature. And when they have done that, they may at most delight in superficial literature and art, which is nothing but a reflection and mirror image of these everyday needs. They shy away from the universal questions that have inspired the minds of humanity for thousands of years. They are not particularly moved when one speaks to them of the “eternal” needs of man, of what J. G. Fichte conceived as the “destiny of man”.
And why do they do so? Because they do not feel the same compelling force in the laws of the spirit as in those of physical existence. The feeling that the people have attached to the figure of Faust in the sixteenth century has taken on a different nature. Faust wanted to reach the spirit as a knower. But the people wanted to believe in the spirit. A spirit that wants to enter into knowledge is the devil's. For it wants to approach us enticingly like nature. But nature is sin.
That one is damned if one surrenders to the spirit, today's humanity does not believe like that of the sixteenth century. But the opinion has remained with it that one cannot recognize the spirit as one recognizes nature. If it cannot believe in it, then it becomes indifferent to it. Knowledge of nature therefore advances, and with it everything that is carried and developed by it. Knowledge of the spirit withers, and at most feeds on the sentiments of the fathers.
And it is not even mere indifference that causes our contemporaries to behave this way. If man seeks this source of life in the laws of his soul, he knows that without it creation would progress just as little undisturbed as cosmic development would progress just as little undisturbed if the sun did not follow its laws. Then the human being also feels that what the German mystic Angelus Silesius says is true:
God cannot make a single little worm without me: if I do not maintain it with him, it must collapse immediately.
Yes, just as the sun, when it leaves its orbit, disturbs the whole of creation, not only itself, so man disturbs the life of the little worm if he does not live according to the laws of his soul, his ideals. And from the realization that a source of life gives rise to our laws of life and to the laws of nature, there arises a cosmic responsibility for man. Lucifer is the significant symbol of the wisdom lying in the world, which is taken up by our knowledge. Only faith can reverently worship this wisdom. Is wisdom now to be an opponent of faith, Lucifer an adversary of God grasped in faith? It is true that faith is the light of the world; but knowledge can only be the bearer, the bringer of this light. And Lucifer means light-bearer. Man should not rest until his wisdom has brought him faith. Lucifer is to be the herald, not the adversary of God. Wisdom is to give birth to faith, to knowledge, to religion. —
40. Naturerkenntnis und Geisteserkenntnis — Von der Weisheit zum Glauben
Das Leben muss nach den Idealen geformt werden. — Also muss ein Einklang möglich sein zwischen Ideal und Leben.
Deshalb darf man nicht wie Harnack sagen: «Absolute Werturteile schafft immer nur Empfindung und Wille». Nein, dasselbe Leben, das draußen die Pflanzen schafft und die Tiere belebt, schafft in dem Menschen die Werturteile. Findet ihr den geistigen Quell des Lebens nicht in dem stummen Stein, nicht in der sprossenden Pflanze, so müsst ihr bald erlahmen, an ihn in eurer eigenen Seele zu glauben. Sind euch die Naturgesetze, die eure Wissenschaft erforscht, etwas für sich, und die Gesetze, die auch euren Wert geben, ebenso etwas für sich, etwas von jenen Getrennte: dann verliert ihr leicht die Sicherheit gegenüber den Letzteren. Dass ihr an die Naturgesetze glaubt, dazu zwingt euch eure wissenschaftliche Beobachtung, an die ihr glauben müsst, wenn ihr nicht eure Augen und Ohren und euren Verstand verleugnen wollt. Wisst ihr, dass ebenso fest im Weltall die andern, die höhern Gesetze wirken, die erst in eurer Seele aufblitzen, dann müsst ihr euch sagen: so wahr wie jene sind diese. Und wenn ihr nicht eure Ideale lebet, so ist es, wie wenn die Sonne nicht ihre Bahnen verfolgte. Eine Sonne, die nicht in diesen Bahnen kreiste, störte den Gang des Weltalls; ein Mensch, der nicht seine Ideale lebt, stört es ebenso. Und warum empfinden viele diese Störung nicht? Weil sie nicht den gleichen Quell in beiden sehen. Weil sie ihren Glauben von ihrem Willen trennen. Das Kind dieser Trennung ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben.
Es leben genug dieser Gleichgültigen heute unter uns. Sie genießen das Licht und die Wärme der Sonne, sie befriedigen ihre ihnen von den Naturgesetzen eingepflanzten Alltagsbedürfnisse. Und wenn sie das getan haben, dann ergötzen sie sich höchstens noch an einer oberflächlichen Literatur und Kunst, die nichts ist als ein Abglanz und Spiegelbild dieser Alltagsbedürfnisse. Scheu vorbeigehen solche an den weltumspannenden Fragen, die jahrtausendelang die Blütegeister der Menschheit belebt haben. Es geht ihnen nicht sonderlich tief, wenn man zu ihnen von den «ewigen» Bedürfnissen der Menschen, von dem spricht, was J. G. Fichte als die «Bestimmung des Menschen» gefasst hat.
Und warum tun sie so? Weil sie nicht dieselbe zwingende Gewalt fühlen bei den Gesetzen des Geistes wie bei denen des körperlichen Daseins. Eine andere Art hat das Gefühl angenommen, das vom Volke an die Faustgestalt des sechzehnten Jahrhunderts gehängt worden ist. Den Geist als Wissender wollte Faust erreichen. Das Volk aber wollte, dass man an den Geist glauben solle. Ein Geist, der ins Wissen treten will, ist des Teufels. — Denn er will verlockend an uns herantreten wie die Natur. Aber die Natur ist Sünde.
Dass man verdammt wird, wenn man sich dem Geiste ergibt, glaubt die heutige Menschheit nicht wie die des sechzehnten Jahrhunderts. Aber die Meinung ist ihr geblieben, dass man den Geist nicht erkennen könne, wie man die Natur erkennt. Kann sie dann nicht an ihn glauben, dann wird sie gleichgültig gegen ihn. Die Naturerkenntnis schreitet deshalb vorwärts und mit ihr alles, was durch sie getragen und entwickelt wird. Die GeistErkenntnis verkümmert, und nährt sich höchstens von den Empfindungen der Väter.
Und es ist nicht einmal bloß Gleichgültigkeit, die unsere Zeitgenossen veranlasst, sich so zu verhalten. Sucht der Mensch diesen Quell des Lebens in seinen Seelengesetzen, so weiß er, dass ohne ihn die Schöpfung ebenso wenig ungestört vorwärtsgeht, wie wenig ungestört die kosmische Entwicklung vorwärtsginge, hielte die Sonne nicht ihre Gesetze inne. Dann fühlt der Mensch auch, dass wahr ist, was der deutsche Mystiker Angelus Silesius sagt:
Gott mag nicht ohne mich ein einzig’s Würmlein machen: Erhalt” ich’s nicht mit ihm, so muss es stracks zerkrachen.
Ja, so wie die Sonne, die aus ihrer Bahn geht, die ganze Schöpfung, nicht nur sich selbst stört, so stört der Mensch das Leben des Würmleins, wenn er nicht seinen Seelengesetzen, seinen Idealen lebt. Und es steigt aus der Erkenntnis, dass ein Lebensquell unsere Lebensgesetze und die Naturgesetze entstehen lässt, eine kosmische Verantwortlichkeit für den Menschen. Das bedeutsame Symbol der in der Welt liegenden Weisheit, die von unserer Erkenntnis, unserem Wissen aufgenommen wird, ist Luzifer. Die andächtige Verehrung dieser Weisheit kann allein der Glaube sein. Soll nun die Weisheit ein Gegner des Glaubens, Luzifer ein Widersacher des im Glauben erfassten Gottes sein? Wohl ist der Glaube das Licht der Welt; aber das Wissen kann allein der Träger, der Bringer dieses Lichtes sein. Und Luzifer heißt Lichtträger. Ehe soll der Mensch nicht ruhen, bis seine Weisheit ihm den Glauben gebracht hat. Der Verkünder, nicht der Widersacher Gottes soll Luzifer sein. Weisheit soll Glauben, Wissen Religion gebären. —