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The Rudolf Steiner Archive

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Aufsätze uber die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Die Zeitforderungen von heute und die Gedanken von gestern

Während der Waffenkrieg tobte, konnte man sehen, wie führende Persönlichkeiten Mitteleuropas immer wieder ihren politischen Scharfsinn darauf wendeten, herauszufinden, daß da oder dort bei den Gegnern Uneinigkeit herrsche. An solche Uneinigkeiten wollten sie anknüpfen, um für einen günstigen Fortgang des eigenen «Staatsgeschäftes» zu sorgen. Durch diese Art diplomatischen Denkens hat man es nach und nach dahin gebracht, nicht zu sehen, wie sich fast die ganze Welt darin einigte, Mitteleuropa zu überwinden.

Wie so vieles, wird auch diese Art von «Diplomatie» jetzt weitergedacht von Persönlichkeiten, die durchaus nicht von den Ereignissen lernen wollen. Man sieht, wie England auf den Wunsch Frankreichs nach einem genau umrissenen militärischen Allianzvertrag nicht eingehen will; man bemerkt, wie man in London nicht geneigt ist, die wirtschaftlich-finanziellen Anforderungen, die von Paris ausgehen, ohne weiteres zu erfüllen, und wie man in England nicht mit unbedingtem Wohlwollen das Begehren Frankreichs bezüglich der Rheingrenze behandelt. Man wendet seine Aufmerksamkeit auf Wilsons politisches Verhalten nach dem Friedensschlusse und auf ähnliche Dinge mehr.

Man möchte nun wieder sich von diesen Uneinigkeiten einen Weg weisen lassen für dasjenige, was man in Mitteleuropa zu tun hat. Man ist wieder so weise, daß man nicht sieht, wie einig die andern sein werden, wenn man selbst sich anschickt, den Weg zu gehen, den man durch ihre Uneinigkeit vorgezeichnet meint.

Wie lange wird es dauern, bis man die Fruchtlosigkeit einer solchen Denkungsart durchschaut? In den Tiefen der europäischen Menschheit walten Kräfte, die eine Fortsetzung dieser Denkart unmöglich machen. In den Ländern des Westens sind durch den vorläufigen Ausgang der Kriegsereignisse Verhältnisse geschaffen, die es gestatten, daß dort führende Persönlichkeiten sich mit ihrem Denken noch eine Weile in den alten Bahnen halten können. An diese Gebiete werden Forderungen der Menschheitsentwickelung erst nach einiger Zeit herantreten, die in Mitteleuropa schon heute brennend sind. Man wird dort das Wirtschaftsleben noch für kurze Zeit mit dem Staatsleben verbunden halten können.

In Mitteleuropa kann nur eines zu einem heilsamen Fortgang führen: die Einsicht in die Neugestaltung der ganzen sozialen Organisation. Die Westländer haben sich durch ihren Zusammenschluß und durch den Sieg die Möglichkeit erkämpft, für eine Zeitspanne den alten sozialen Organismus zu erhalten. Diese Erhaltung ist an ihren Sieg gebunden. Die Länder Mitteleuropas sind in einer Lage, die eine solche Erhaltung unmöglich macht. Hier muß eingesehen werden, daß die alten sozialen Gebilde keine Institutionen haben, die aus dem Chaos herausführen können.

Soziale Gebilde veralten; aus den Tiefen der Menschenseelen müssen die Triebkräfte zu Neugestaltungen kommen. Ohne das Vertrauen zu dem, was in diesen Tiefen waltet, kann man nicht weiterkommen. Auf diejenigen sollte nicht weiter gerechnet werden, die dieses Vertrauen als Ausfluß eines phantastischen Idealismus hinstellen und als das Praktische nur das predigen, was sie als das Übliche gewohnt geworden sind zu denken. Wenn heute in London das Ansinnen der französischen Regierung nach einer militärischen Allianz wegen der britischen Traditionen nicht mit offener Seele aufgenommen wird, wenn England seine Kassen den französischen Wirtschaftsbedürfnissen nicht ganz bereitwillig öffnet, so sind das Dinge, auf die nur die «schlauen» Schüler oder Nachtreter des alten diplomatischen Denkens ihre Blicke richten. Diejenigen, die die «Zeichen der Zeit» verstehen, sollten einsehen, daß aus diesen Dingen für den Fortgang der mitteleuropäischen Verhältnisse ebensowenig zu gewinnen ist, wie vor dem Kriege dadurch zu gewinnen war, daß es «unvereinbar» war mit den Gepflogenheiten Englands, auf einen militärischen Bündnisvertrag mit Frankreich einzugehen. Auf solches waren die Augen derer gerichtet, die nach den Anschauungen Czernins mit «europäischer Bildung» in den Gesandtschaftspalästen der Welt sitzen sollten. Aber diese «europäische Bildung» hat die Schrecknisse der letzten Jahre gezeitigt. Diese «europäische Bildung» hat in Salons «Stimmungen» erforscht und nichts davon bemerkt, wie die Welt zusammenbricht, während sie Politik macht. Für gewisse Leute sind diese alten Stimmung-Hörer abgetan; deren Methode aber soll nicht einer neuen Denkungsart weichen. Wird man nicht aufhören, auf solche «Praktiker» etwas zu geben, so wird man weiter träumen, was Mitteleuropa tun solle in dem Augenblicke, da sich zwischen der Kreditbedürftigkeit des einen und der Kreditbereitschaft des andern im Westen eine «tiefe Kluft» auftut. Man wird nichts anderes damit erreichen, als daß der Traum eines Tages zu dem Erwachen führt, das zeigen wird, wie man selbst in die «tiefe Kluft» hineingefallen ist.

Die Idee von der «Dreigliederung des sozialen Organismus» wendet sich an Menschen, die mit unbefangenem Blicke erkennen, wie die Weltkatastrophe aus den Anschauungen hervorgegangen ist, die von der oben gekennzeichneten Art sind. Die Träger dieser Anschauungen glauben heute, daß der Weltkrieg vermeidlich gewesen wäre, wenn das Verhältnis zwischen Deutschland und England sich nach ihrem Sinne vor 1914 entwickelt hätte. Sie vergessen dabei nur, daß dieses Verhältnis sich so nicht hat gestalten können in einer Welt, die von ihren Denkgewohnheiten beherrscht war. Auf diese Art von «Praktikern» hat die Welt nun lange genug hingehört; sie haben auch lange genug als «utopistisch» und «phantastisch» verschreien dürfen, was den Versuch machte, mit ihren Denkgewohnheiten zu brechen. Die Zeit sollte gekommen sein, in der man das Phantastische durchschaut, das in solchen Praktikern lebt, und sich detq Wirklichen zuwendet, das mit den Forderungen des weltgeschichtlichen Augenblickes rechnet.