Donate books to help fund our work. Learn more→

The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24

Die Zeitforderungen von heute und die Gedanken von gestern

[ 1 ] Während der Waffenkrieg tobte, konnte man sehen, wie führende Persönlichkeiten Mitteleuropas immer wieder ihren politischen Scharfsinn darauf wendeten, herauszufinden, daß da oder dort bei den Gegnern Uneinigkeit herrsche. An solche Uneinigkeiten wollten sie anknüpfen, um für einen günstigen Fortgang des eigenen «Staatsgeschäftes» zu sorgen. Durch diese Art diplomatischen Denkens hat man es nach und nach dahin gebracht, nicht zu sehen, wie sich fast die ganze Welt darin einigte, Mitteleuropa zu überwinden.

[ 2 ] Wie so vieles, wird auch diese Art von «Diplomatie» jetzt weitergedacht von Persönlichkeiten, die durchaus nicht von den Ereignissen lernen wollen. Man sieht, wie England auf den Wunsch Frankreichs nach einem genau umrissenen militärischen Allianzvertrag nicht eingehen will; man bemerkt, wie man in London nicht geneigt ist, die wirtschaftlich-finanziellen Anforderungen, die von Paris ausgehen, ohne weiteres zu erfüllen, und wie man in England nicht mit unbedingtem Wohlwollen das Begehren Frankreichs bezüglich der Rheingrenze behandelt. Man wendet seine Aufmerksamkeit auf Wilsons politisches Verhalten nach dem Friedensschlusse und auf ähnliche Dinge mehr.

[ 3 ] Man möchte nun wieder sich von diesen Uneinigkeiten einen Weg weisen lassen für dasjenige, was man in Mitteleuropa zu tun hat. Man ist wieder so weise, daß man nicht sieht, wie einig die andern sein werden, wenn man selbst sich anschickt, den Weg zu gehen, den man durch ihre Uneinigkeit vorgezeichnet meint.

[ 4 ] Wie lange wird es dauern, bis man die Fruchtlosigkeit einer solchen Denkungsart durchschaut? In den Tiefen der europäischen Menschheit walten Kräfte, die eine Fortsetzung dieser Denkart unmöglich machen. In den Ländern des Westens sind durch den vorläufigen Ausgang der Kriegsereignisse Verhältnisse geschaffen, die es gestatten, daß dort führende Persönlichkeiten sich mit ihrem Denken noch eine Weile in den alten Bahnen halten können. An diese Gebiete werden Forderungen der Menschheitsentwickelung erst nach einiger Zeit herantreten, die in Mitteleuropa schon heute brennend sind. Man wird dort das Wirtschaftsleben noch für kurze Zeit mit dem Staatsleben verbunden halten können.

[ 5 ] In Mitteleuropa kann nur eines zu einem heilsamen Fortgang führen: die Einsicht in die Neugestaltung der ganzen sozialen Organisation. Die Westländer haben sich durch ihren Zusammenschluß und durch den Sieg die Möglichkeit erkämpft, für eine Zeitspanne den alten sozialen Organismus zu erhalten. Diese Erhaltung ist an ihren Sieg gebunden. Die Länder Mitteleuropas sind in einer Lage, die eine solche Erhaltung unmöglich macht. Hier muß eingesehen werden, daß die alten sozialen Gebilde keine Institutionen haben, die aus dem Chaos herausführen können.

[ 6 ] Soziale Gebilde veralten; aus den Tiefen der Menschenseelen müssen die Triebkräfte zu Neugestaltungen kommen. Ohne das Vertrauen zu dem, was in diesen Tiefen waltet, kann man nicht weiterkommen. Auf diejenigen sollte nicht weiter gerechnet werden, die dieses Vertrauen als Ausfluß eines phantastischen Idealismus hinstellen und als das Praktische nur das predigen, was sie als das Übliche gewohnt geworden sind zu denken. Wenn heute in London das Ansinnen der französischen Regierung nach einer militärischen Allianz wegen der britischen Traditionen nicht mit offener Seele aufgenommen wird, wenn England seine Kassen den französischen Wirtschaftsbedürfnissen nicht ganz bereitwillig öffnet, so sind das Dinge, auf die nur die «schlauen» Schüler oder Nachtreter des alten diplomatischen Denkens ihre Blicke richten. Diejenigen, die die «Zeichen der Zeit» verstehen, sollten einsehen, daß aus diesen Dingen für den Fortgang der mitteleuropäischen Verhältnisse ebensowenig zu gewinnen ist, wie vor dem Kriege dadurch zu gewinnen war, daß es «unvereinbar» war mit den Gepflogenheiten Englands, auf einen militärischen Bündnisvertrag mit Frankreich einzugehen. Auf solches waren die Augen derer gerichtet, die nach den Anschauungen Czernins mit «europäischer Bildung» in den Gesandtschaftspalästen der Welt sitzen sollten. Aber diese «europäische Bildung» hat die Schrecknisse der letzten Jahre gezeitigt. Diese «europäische Bildung» hat in Salons «Stimmungen» erforscht und nichts davon bemerkt, wie die Welt zusammenbricht, während sie Politik macht. Für gewisse Leute sind diese alten Stimmung-Hörer abgetan; deren Methode aber soll nicht einer neuen Denkungsart weichen. Wird man nicht aufhören, auf solche «Praktiker» etwas zu geben, so wird man weiter träumen, was Mitteleuropa tun solle in dem Augenblicke, da sich zwischen der Kreditbedürftigkeit des einen und der Kreditbereitschaft des andern im Westen eine «tiefe Kluft» auftut. Man wird nichts anderes damit erreichen, als daß der Traum eines Tages zu dem Erwachen führt, das zeigen wird, wie man selbst in die «tiefe Kluft» hineingefallen ist.

[ 7 ] Die Idee von der «Dreigliederung des sozialen Organismus» wendet sich an Menschen, die mit unbefangenem Blicke erkennen, wie die Weltkatastrophe aus den Anschauungen hervorgegangen ist, die von der oben gekennzeichneten Art sind. Die Träger dieser Anschauungen glauben heute, daß der Weltkrieg vermeidlich gewesen wäre, wenn das Verhältnis zwischen Deutschland und England sich nach ihrem Sinne vor 1914 entwickelt hätte. Sie vergessen dabei nur, daß dieses Verhältnis sich so nicht hat gestalten können in einer Welt, die von ihren Denkgewohnheiten beherrscht war. Auf diese Art von «Praktikern» hat die Welt nun lange genug hingehört; sie haben auch lange genug als «utopistisch» und «phantastisch» verschreien dürfen, was den Versuch machte, mit ihren Denkgewohnheiten zu brechen. Die Zeit sollte gekommen sein, in der man das Phantastische durchschaut, das in solchen Praktikern lebt, und sich dem Wirklichen zuwendet, das mit den Forderungen des weltgeschichtlichen Augenblickes rechnet.

Today's Challenges and Yesterday's Thoughts

[ 1 ] While the war of arms was raging, one could see how leading personalities in Central Europe repeatedly turned their political acumen to finding out that there was disagreement here and there among their opponents. They wanted to build on such disagreements in order to ensure the favorable progress of their own "state business". This kind of diplomatic thinking gradually made it impossible to see how almost the whole world agreed to overcome Central Europe.

[ 2 ] Like so many other things, this kind of "diplomacy" is now being perpetuated by people who do not want to learn from events. One can see how England does not want to respond to France's desire for a precisely defined military alliance treaty; one notices how London is not inclined to meet the economic and financial demands emanating from Paris without further ado, and how England does not treat France's request regarding the Rhine border with unconditional benevolence. One turns one's attention to Wilson's political behavior after the conclusion of peace and to similar things more.

[ 3 ] They now want to let these disagreements show them a way forward for what they have to do in Central Europe. You are again so wise that you cannot see how united the others will be when you yourself are preparing to follow the path that you think is marked out by their disagreement.

[ 4 ] How long will it take to see through the fruitlessness of such a way of thinking? In the depths of European humanity, forces are at work that make it impossible to continue this way of thinking. In the countries of the West, the provisional outcome of the war has created conditions that allow leading personalities there to keep their thinking on the old lines for a while longer. It will be some time before these areas are confronted with the demands of human development which are already pressing in Central Europe. It will still be possible to keep economic life linked to state life there for a short time.

[ 5 ] In Central Europe, only one thing can lead to a salutary progress: the insight into the reorganization of the entire social organization. Through their union and their victory, the Western countries have won the possibility of preserving the old social organization for a time. This preservation is tied to their victory. The countries of Central Europe are in a situation that makes such preservation impossible. Here it must be recognized that the old social formations have no institutions that can lead out of chaos.

[ 6 ] Social structures become obsolete; from the depths of human souls must come the driving forces for new forms. Without trust in what is at work in these depths, no progress can be made. We should not count on those who present this trust as an outgrowth of a fantastic idealism and preach as the practical only what they have become accustomed to thinking as the usual. If today in London the French government's request for a military alliance is not received with an open mind because of British traditions, if England does not quite willingly open its coffers to French economic needs, these are things that only the "clever" disciples or followers of the old diplomatic way of thinking look at. Those who understand the "signs of the times" should realize that there is as little to be gained from these things for the progress of Central European relations as there was to be gained before the war by the fact that it was "incompatible" with England's customs to enter into a military alliance treaty with France. The eyes of those who, according to Czernin's views, were to sit in the palaces of ambassadors of the world with a "European education" were focused on this. But this "European education" has resulted in the horrors of recent years. This "European education" has researched "moods" in salons and noticed nothing of how the world is collapsing while it is making policy. For certain people, these old mood-listeners have been dismissed, but their method should not give way to a new way of thinking. If we do not stop paying attention to such "practitioners", we will continue to dream about what Central Europe should do at the moment when a "deep gulf" opens up in the West between the need for credit on the one hand and the willingness to borrow on the other. All that will be achieved is that the dream will one day lead to the awakening that will show how we ourselves have fallen into the "deep chasm".

[ 7 ] The idea of the "threefold structure of the social organism" is addressed to people who recognize with an impartial eye how the world catastrophe has emerged from views of the kind described above. Those who hold these views believe today that the world war would have been avoidable if the relationship between Germany and England had developed according to their ideas before 1914. They only forget that this relationship could not have developed in this way in a world that was dominated by their habits of thought. The world has now listened to this kind of "practitioners" long enough; they have also been allowed long enough to decry as "utopian" and "fantastic" anything that attempted to break with their habits of thought. The time should have come to see through the fantasy that lives in such practitioners and turn to the real, which reckons with the demands of the world-historical moment.